© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Aus beträchtlicher Nähe miterlebt
Carl Gustaf Ströhm

Ist er der beste Philosoph unter den Geheimpolizisten - oder der beste Geheimpolizist unter den Philosophen?" Diese makabre Moskauer Scherzfrage, die sich einst auf Pawel Judin, einen der berüchtigtsten "Professoren des Marxismus-Leninismus", bezog, kommt einem in den Sinn angesichts der Neuigkeiten um den bundesrepublikanischen Großkritiker Marcel Reich-Ranicki.

Eine in Warschau freigegebene polnische Akte bestätigt, was seit Mitte der achtziger Jahre behauptet und von Reich-Ranicki in seiner 1999 erschienenen Autobiographie - allerdings verharmlosend - zugegeben wurde: Der spätere Großinquisitor der Literaturkritik war in seinen frühen Jahren Agent und offenbar sogar Führungsoffizier der stalinistischen polnischen Geheimpolizei. Er wurde vom Warschauer KP-Apparat sogar als "jüngster Konsul" an die polnische Botschaft nach London entsandt.

Auf den ersten Blick nimmt sich harmlos und naiv aus, wie Reich-Ranickis Beteuerung, er habe beim polnischen Geheimdienst, auf Veranlassung des "sowjetischen Beraters", Romane, Erzählungen und Reportagen "ausgewertet" - eine seltsame Vorwegnahme seiner späteren Karriere als Literaturkritiker im Westen. Doch diese Berater in den Partei- und Regierungsämtern der Satellitenstaaten waren keineswegs heurige Hasen, die sich darauf beschränkten, von ihren Adepten literarische Texte interpretieren zu lassen. Das waren vielmehr erfahrene, brutale NKWD-"Experten", die in den stalinistischen Säuberungen gezeigt hatten, was "Tschekisten" zu leisten vermögen.

An den Händen des vorgesetzten Sowjetberaters klebte wahrscheinlich Blut. Und der polnische Geheimdienstapparat war gleichfalls keine "harmlose" Organisation. Es handelte sich um eine Filiale des Moskauer Dienstes - und damit um eine verbrecherische Organisation, die gefoltert, gemordet und zahllose Opfer verschleppt hat. Reich-Ranicki mag wie Parsifal von all dem nichts gewußt und nichts gemerkt haben: aber das er Mitglied dieser Organisation war, steht eindeutig fest.

Dann ist da noch der Schauplatz London. Dieser ist besonders interessant, weil hier die - von den Westmächten im Sommer 1945 schmählich im Stich gelassene -konservative polnische Exilregierung von Stanislaw Mikolajczyk ihren Sitz hatte. Es liegt zumindest nahe, daß Reich-Ranicki mit der Ausspionierung und Zersetzung der antikommunistischen Exilpolen zu tun hatte.

Vollends absurd und stellenweise komisch ist die Art und Weise, wie das FAZ-Feuilleton seinen Literatur-Helden weißzuwaschen sucht. Die FAZ attackiert sogar die Neue Zürcher Zeitung, weil letztere die Feststellung gewagt hatte: Wenn Reich-Ranicki "an früheren Verbrechen des kommunistischen Regimes Volkspolens auch nicht selber mitwirkte, so dürfte er sie doch aus beträchtlicher Nähe miterlebt haben."

Das Frankfurter Blatt kontert, Reich-Ranitzki hätte ja auch nicht die Deutschen gefragt, aus welcher Nähe sie die Verbrechen der Nazis miterlebt hätten. Und die bürgerliche FAZ ruft dann noch die linksliberale Süddeutsche zu Hilfe, die die Frage stellt, was einem Opfer der Judenverfolgung nicht alles zugemutet werde. Als ob Abstammung oder Konfession etwas mit der unzweifelhaften Tatsache zu tun haben, daß jemand in jungen Jahren schuldig geworden ist.

Ein anständiger junger Mensch, gleich ob Russe, Ukrainer oder Pole, machte besonders zu Stalins Zeiten einen möglichst weiten Bogen um die einschlägigen "Organe". Jeder wußte, was in deren Kellern geschah.


 
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