© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
"Wir können da nicht zusehen"
Flutkatastrophe I: Reportage eines Helfers aus der sächsischen Landeshauptstadt Dresden
Ronald Gläser

Am Anfang stand das Entsetzen. Wer das Oderhochwasser 1997 erlebt hat, der wußte beim Anblick der Bilder aus Prag, daß eine nationale Katastrophe bevorsteht. Die Ausmaße der Überflutungen entlang der Elbe überstiegen alles bislang Dagewesene in Deutschland. Unter den Zehntausenden, die den Kampf gegen die Naturgewalten aufgenommen haben, befinden sich zahllose Freiwillige. Die JF hat eine Gruppe von Berlinern bei ihrem Einsatz im Katastrophengebiet begleitet. Einer von ihnen ist Florian Herz.

DONNERSTAG. Der 26jährige Einzelhandelskaufmann fuhr letzte Woche erstmals mit drei Freunden nach Dessau und Roßlau, um die Flut mit eigenen Augen zu betrachten. Der Schock beim Anblick überfluteter Straßen und Keller sitzt tief. Zurück in Berlin beratschlagen die vier, wie den vom Hochwasser betroffenen Gebieten geholfen werden kann. "Wir können da nicht zusehen," sagt Herz. Auch den anderen gehen die Bilder nicht aus dem Kopf. Die Hilfsbereitschaft ist beinahe physisch zu spüren. Von einem Geschäftspartner werden dreißig Hochdruckpumpen ausgeliehen.

FREITAG. In aller Herrgottsfrühe treffen sich die vier Freiwilligen zu einem Schnellkurs in Pumptechnik. Unterhalb des Reichstags ist Wasser in den Schacht der sogenannten Kanzler-U-Bahn gelaufen. Dieses wird mit einer Pumpe zwanzig Meter aufwärts in die Kanalisation gepumpt. Die Fahrt durch die Berliner Innenstadt wird wegen der Europameile auf dem Kurfürstendamm eingeschränkt. So ist die Partymetropole Berlin. Die einen riskieren Kopf und Kragen, die anderen feiern ein Straßenfest. Unterdessen bringt das Fernsehen immer neue Schreckensbotschaften aus dem Überflutungsgebiet. Dammbrüche und steigende Pegel von Dresden bis Dessau - Abends sind Pumpen, Schläuche und Generatoren auf einen Lkw geladen. In Dresden werden die Pumpen zunächst in einem Hotel unmittelbar an der Elbe benötigt.

SONNABEND. In den frühen Morgenstunden erreicht der Konvoi die sächsische Landeshauptstadt. Zur Überraschung des dreiköpfigen Vorauskommandos existiert keine Polizeisperre am Ortseingang. Ortsfremde würden an der Einreise gehindert, um Schaulustige fernzuhalten, hieß es in den Nachrichten. Das Hotel Bellevue liegt am Elbufer gegenüber der historischen Altstadt Dresdens. Vom Zwinger und vom Dom trennen einen normalerweise zwanzig Meter Wasser. Heute fühlt man sich an den Amazonas erinnert. Die Feuerwehr und das Technische Hilfswerk (THW) sind bereits im Einsatz. Der Strom ist ausgefallen. Am Hoteleingang ruhen sich einige der Hilfskräfte im schwachen Schein weniger Scheinwerfer aus. Florian Herz stellt sich vor und bietet den sofortigen Einsatz der Pumpen an.

Der Hausmeister und eine übermüdete Hotelbeschäftigte führen die Gruppe über das Gelände. Das Wasser schwappt gegen die Uferseite des Gebäudes. Die Tiefgarage füllt sich unaufhaltsam mit der grünen Brühe. Die erste Hochdruckpumpe mit Dieselmotor wird noch in der Nacht in Betrieb genommen: Für drei Neulinge in der Absaugbranche eine beachtliche Leistung. Nur einer gönnt sich drei Stunden Schlaf. Als mittags Ersatz eintrifft, begeben sich Florian Herz und seine beiden Kameraden auf die Rückreise nach Berlin.

Es gibt keinen Strom, kein warmes Wasser und keine Ersatzkleidung. Nach zwölf Stunden Dauereinsatz im grünen Elbwasser brauchen alle eine Dusche, eine Ruhepause und neue Kleidung. Am Abend erfolgt die Rückreise nach Berlin. Mit an Bord ist ein vierter Helfer, der 24jährige Karsten Schmidt. Es entsteht eine eigenartige Atmosphäre. Einer sagt, es sei "wie Krieg". Und in der Tat werden alle vier Helfer von einer Mischung aus Abenteuerlust und Opferbereitschaft vorangetrieben. Diesmal kontrolliert die Polizei das ortsfremde Fahrzeug, läßt uns aber sofort passieren. Sofort wird die Arbeit wieder aufgenommen und weitere Pumpen installiert.

SONNTAG. Endlich geht das Wasser zurück. Trotzdem ist die Bilanz verheerend. Zeitweise stand das Erdgeschoß des Bellevue unter Wasser. Alles wird aufwendig renoviert werden müssen. Inzwischen haben sich die anderen Hilfskräfte immer wieder umgruppiert. Normalerweise sieht die Reihenfolge bei Katastropheneinsätzen so aus: Erst wenn die Feuerwehr nicht mehr klarkommt, rückt das THW an. Wenn selbst deren schweres Gerät versagt, dann wird zusätzlich die Bundeswehr gerufen.

Auch beim Einsatz in der Dresdner Neustadt arbeiteten alle Hilfskräfte vorbildlich zusammen. Zur Motivation der freiwilligen Angehörigen des Technischen Hilfswerks gehört ihr Auftreten und ihr Gerät. THW-Leute lieben ihr "Männerspielzeug" in Form von Generatoren, Lkw mit Blaulicht und Uniformen. Besonders stolz präsentieren die THW-Mitarbeiter zum Beispiel ihre größte Pumpe, so als handele es sich um ein Cabrio oder eine neue Freundin. "Hannibal" heißt die Superpumpe. Offenbar ist der Name eine Reminiszenz an die Elefanten des legendären karthagischen Feldherrn, der mit ihnen die Alpen überquerte.

Die Feuerwehrleute, die sich in vorwiegend kleinen Ortschaften freiwillig melden, werden vom Gemeinschaftssinn angezogen. Es gibt kaum einen Einsatzwagen, in dem keine Bierkästen gestapelt sind. Abends löschen die fröhlichen Feuerwehrmänner einen ganz besonderen Brand.

Der Hotelkeller ist bald leergepumpt. Um nicht untätig zu bleiben, beginnt einer der Helfer, sich durch den Dschungel von Krisenstäben zu wühlen. Vom Krisenstab der Stadt Dresden über die Einsatzleitung des THW bis zum Führungsstab der Feuerwehr - überall werden Pumpkapazitäten angeboten. Ein Dutzend Telefonnummern reihen sich aneinander. Die Improvisation trägt bald Früchte. Die Feuerwehr bittet um Hilfe. Das Sozialamt soll abgepumpt werden. Eine Stunde später surrt eine mittelgroße Pumpe in der Riesaer Straße.

Dann melden sich private Hausbesitzer und öffentliche Einrichtungen mit ihrem Hilferuf. Wann immer ein Keller übergeben werden kann, ist er mit öligem, stinkendem Schlamm bedeckt. Die Aufräumarbeiten fangen jetzt erst an. Es ist eine Katastrophe, die sich einem erst offenbart, wenn sie vorüber ist.

MONTAG. Ein Tag Ruhe muß sein. Die Bilder müssen entwickelt werden. Und ein Arztbesuch ist auch fällig. Heute hat die offizielle Einsatzleitung in Dresden die Impfung aller Hilfskräfte gegen Hepatitis angeordnet. Krankenhäuser in Berlin geben sich unwissend. Es sind 70 Euro zu entrichten, andernfalls gibt es keine Impfung. Soviel zum Thema Soforthilfe...

Das verschmutzte Wasser hat seine Spuren auf der Haut hinterlassen. Kein Gummistiefel schützt zuverlässig vor der verunreinigten Elbe, schon gar nicht, wenn man Hochdruckpumpen und Schläuche installiert. Der Hautarzt betrachtet die Rötungen unterhalb des Knies, den "Kollateralschaden" des Hilfseinsatzes. "Ihr seid Helden", läßt er seinen Patienten wissen. Diese kurze Anerkennung entschädigt für alles: Schlafmangel, Erschöpfung und Juckreiz. Und das Gefühl, Landsleuten in schwerer Not geholfen zu haben.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen