© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
Einblicke in ein nationales Herbarium
Der gelungene Versuch des Berliner Literaturwissenschaftlers Peter Nusser, das Monument einer neuen Literaturgeschichte zu entwerfen
Wolfgang Saur

Die Künste befinden sich gegenwärtig in einer mißlichen Lage.Ihre "Autonomisierung" hat nämlich auch ihren Bedeutungsverlust verschuldet. Das gilt gerade für die Literatur, die als Institution verschwunden ist. "Längst sind politische Macht, soziale Repräsentation, selbst die kulturelle Produktion von Images, Idealen und Ideen abgekoppelt vom Medium Buch" (Winkels). Periodische Politisierungsstrategien wie auf der aktuellen Documenta in Kassel und zweitrangige Medienskandale wie der um Martin Walsers neuen Roman vermögen die öffentliche Aufmerksamkeit nicht dauerhaft an Ästhetisches zu binden.

Das provoziert die thematische Entleerung von Kunst und läßt private Befindlichkeiten und mikroskopische Subjektivismen wuchern, wie eben jetzt der Wettbewerb für den literarischen Nachwuchs in Klagenfurt einmal mehr gezeigt hat. Diese Selbstbezüglichkeit wird von der Literaturwissenschaft noch verstärkt. Im Zuge der Internationalisierung des Kulturbetriebs hat jene ihre Wahrnehmung auf einen simultanen Welthorizont umgestellt. Damit entschwindet aber auch die normative Kraft, die aus der vormaligen Traditionsorientierung den Nationalliteraturen erwuchs. Schwelgen die Kritiker im Globalisierungsrausch, so sind die akademischen Germanisten dem Spezialisierungswahn verfallen und damit außerstande, unsere Nationalliteratur als kollektiven Tiefenraum, ja nicht einmal einzelne Epochengestalten mehr vor der Öffentlichkeit angemessen zu vertreten.

Genau dies wäre freilich notwendig. Je geschwinder wir uns von den alteuropäischen Kulturen entfernen, auch denen der deutschen Länder und Regionen, desto wichtiger wird deren Vergegenwärtigung in Sinngestalten, desto entschiedener gilt es, kohärente historische Physiognomien herauszuarbeiten und, die künstlerischen Phänomene, anstatt sie formalästhetisch zu isolieren, mit der geschichtlichen Entwicklung im ganzen zu verknüpfen.

Das so etwas zu leisten sei, zeigt jetzt das ehrgeizige Projekt eines Berliner Germanisten: nämlich Wege und Schicksale deutscher Literatur durch die Jahrhunderte umfassend darzustellen. Peter Nusser (geboren 1936), bis 2000 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin, hat sich dieses anspruchsvolle Projekt gesetzt und eben den zweiten Band einer auf drei Teile angelegten Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zum Zwanzigsten Jahrhundert vorgelegt. Seine "Deutsche Literatur von 1500 bis 1800" schließt sich an den Band "Deutsche Literatur im Mittelalter" (1992) an. Beider Untertitel, "Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen", verweist dabei präzise auf Nussers Konzept. Sein kultur- und sozialhistorischer Ansatz zielt auf eine Problemanalyse, die jeder Periode ihr spezifisches Profil gibt. Dieses gründet jeweils in einem besonderen Epochenprinzip, das auch die geistige Einheit zwischen den unterschiedlichen Zeitaspekten stiftet und den sozialen Trägern ihre Rollen zuweist. So entwirft etwa der Barockteil des neuen Bandes vom Grundriß des höfischen Absolutismus aus ein Panorama barocker Festkultur nach ihren hauptsächlichen Strukturmerkmalen, um dann die Formen, Entwicklungen und Autoren der deutschen Barockpoesie differenzierend vorzustellen. Eine intelligente Disposition analysiert Schlüsselwerke, bietet eine weite Datenfülle komprimiert dar, kontextualisiert europäisch und läßt Poesie als den literarisch ausgezeichneten Teil eines viel größeren Schrifttums erkennen; (verschmäht also die Betrachtung allgemeiner "historischer Quellen" so wenig wie die literarischen Breitenphänomene, die eine "ästhetische Gipfelkunde" sonst gern unterschlägt). So spielt der "Cortegiano" Castigliones (1528) als Modell des honnête homme eine große Rolle; sein Sozialcharakter und Bildungsideal werden analysiert und die Metamorphose seines Tugendsystems seit der Ritterzeit rekonstruiert.

Nusser betont den Subjektcharakter der Literatur und ihrer Protagonisten. Abspiegelungstheorien entgegen, die Literatur bloß als "Dokumentation mentaler Ordnungen" begreifen wollen, richtet sich sein Erkenntnisinteresse auf die Frage, "inwieweit Literatur durch ihre Möglichkeiten des gedanklichen und künstlerischen Ausdrucks im Verlauf der Geschichte an der Weitergabe und Veränderung bestehender und am Aufbau neuer Wertvorstellungen beteiligt gewesen ist". Das heißt aber: der Literatur ihre Welthaltigkeit zurückgeben, die sie bei rein immanenter Betrachtung und ihrer ästhetischen "Verkultung" verliert.

Der Band Eins systematisiert die vier Kulturmodelle, Lebenswelten, Wertsysteme und Literaturformen: der Kirche vom 8. bis 16. Jahrhundert (1), der Heldenepik auf dem Hintergrund der Entwicklung vom Sozial- und Herrschaftsverständnis des germanischen Kriegeradels bis zum christlichen Königtum und zur Kreuzzugsthematik (2), der höfischen Dichtung in der "staufischen Klassik" (3) und schließlich der bürgerlichen Stadtkultur im Spätmittelalter (4). Überall dringt Nusser auf äußerste Verdichtung und wertet den Ertrag ganzer Disziplinen auf engstem Raume aus. Man sehe etwa, wie er einen vollständigen Aufriß von Meister Eckharts mystischem System auf einer einzigen Seite unterzubringen weiß.

Das Lutherkapitel entwickelt neben Voraussetzungen und Ursachen der Reformation den theologischen Kerngehalt der reformatorischen Grundschriften von 1520, behandelt dann die neue Diskursform der Predigt, Luthers Ideen von Partnerschaft und Sexualität im Zusammenhang mit dem Sozialmodell "evangelisches Pfarrhaus", das protestantische Arbeitsethos, welches sogar als kritisches Korrektiv zur modernen Industriegesellschaft diskutiert wird, dann Buchdruck und neuen literarischen Markt; schließlich wendet Nusser sich ausführlich der schöpferischen Bibelübersetzung Luthers zu und würdigt dessen Revolutionierung der deutschen Sprache. Ein apartes Thema bilden die säkularen Transformationsformen altkirchlicher Askese. Nusser entdeckt hier untergründige Strukturmomente im Sozialkosmos des bürgerlichen Pfarrhauses. Auch die Mentalität der Humanisten, welche im profanen Alltag an der "meditativen Einsamkeit" und "nachdenklichen Geselligkeit" des Ordenslebens festhielten, weist auf diesen Quellgrund zurück. Als Protagonisten der Renaissancebewegung eröffnen sie den Neuzeit-Band. Ihre Werthaltungen und praktischen Orientierungen haben die moderne Entwicklung wesentlich begründet und wirken bis heute fort. Die Sprachbesessenheit der Humanisten, ihr philologisches Ingenium, ihre Sammelleidenschaft und Liebe zu den Büchern, die Orientierung an authentischen Quellen, ihre neuartige curiositas (Geschichte, Natur, Geographie), die Rolle der Skepsis und die Entdeckung des "Ästhetischen" werden im einzelnen ausgeführt, dann die Gattungen und Genres des humanistischen Literaturschatzes betrachtet: Sprichwörtersammlungen, Pamphlete, Lyrik, Dialoge, Festreden, Theater (Übergang vom mittelalterlichen "Schau-Spiel" zum "Sprachkunstwerk"), Schulddramen, Nekrologe, Satiren, literarischer "Grobianismus" (Rabelais, Fischart), endlich die Staatsutopien, bis hin zu den spiritualistischen Schriften Sebastian Francks und des Paracelsus. Vom rationalistischen Irrtum, das Zeitalter als bloße Frühaufklärung abzutun, ist der Autor nämlich weit entfernt. Vielmehr bleibt er sich des apokalyptischen Zeitcharakters mit all den hermetischen Disziplinen, revolutionären Ausbrüchen, geistlichen Visionen und manieristischen Exaltationen voll bewußt und erkennt ausdrücklich den kryptischen Faden einer weitläufigen spirituellen "Signaturenlehre" (Mystik, Pansophie, Pietismus, Romantik), der als "deutscher Idealismus" einen spezifischen Beitrag zur Weltkultur ausmacht.

Man bedauert deshalb, daß dieser Aspekt im Abschnitt 1700 - 1800 nicht ausdrücklich exponiert wird, sondern Autoren wie Herder und Hamann vom "modernen Emanzipationsprozeß" gleichsam verschluckt sind. Der Zeitraum 1500 - 1800 ist von Nusser griffig schematisiert nach: Renaissance-Humanismus, Barockkultur und Aufklärung. Das 18. Jahrhundert findet sich bei ihm als Kontinuität gedeutet, nicht als Bruch. Wurden Pietismus, Geniebewegung, Sturm und Drang früher vielfach als Zeichen einer geistigen Revolution in Deutschland interpretiert, als programmatische Zäsur mit dem Rationalismus, sind hier die Positionen und Ereignisse als Momente einer sich entfaltenden bürgerlichen Kultur gefaßt. Das ist auch dem epochekonstitutiven, neuen Paradigma Nussers heuristisch geschuldet: die Entwicklung der "staatsbürgerlichen Gesellschaft". Deren Mentalität identifiziert er mit Kategorien wie: Nützlichkeitsdenken, moralische Erziehung, Vertragsgedanken, universalistische Humanität, Glücksuche in einer postreligiösen Welt, Selbstdisziplin. Prinzipien wie "Intersubjektivität" und "öffentlicher Diskurs" zeigen vollends des Autors Sympathieverhältnis zu Jürgen Habermas an. Eingebunden ist die Sichtweise in den konzeptionellen Rahmen, den erstmals Norbert Elias ("über den Prozeß der Zivilisation", 1939) entworfen hat und in dessen Dunstkreis sich Nussers Referenzautor Wilhelm Flitner ("Europäische Gesittung", 1961) bewegt. Diese Position statuiert einen Fortschritt wachsender Rationalisierung qua Affektbeherrschung, die den älteren Außenzwang internalisiert zum Selbstzwang. Pessimistischer Einschätzung (Foucault) entgegen, ist Nussers Perspektive eher optimistisch bestimmt, gleichwohl nicht unkritisch. So urteilt er übers späte 18. Jahrhundert: "Die 'Entdeckung' der großen Macht des Gefühls" war eine Gegenbewegung "zum Vernunftoptimismus der Aufklärung, dessen zwanghafte Seiten im Verlauf des Jahrhunderts immer weniger zu übersehen waren." Als Beispiel bietet sich Kleists "Penthesilea" (1808) an, die Nusser in einer Reihe eindrucksvoller Drameninterpretationen dem "humanistischen Lehrtheater der Weimarer Klassik", in Sonderheit Goethes "Iphigenie" (1779/86), gegenüberstellt, oder aber das trivialliterarische, die Zeitgenossen begeisternde Produkt aus der Feder von Goethes Schwager Vulpius, der Räuberroman "Rinaldo Rinaldini" (1799).

Nusser hält angesichts der in der Mediengesellschaft entstandenen "neuen Unmündigkeit" das authentische Ideal staatsbürgerlicher Selbstverständigung auch in der Gegenwart aller Ehren wert, bleibt aber gleichzeitig einer notwendigen "Dialektik der Aufklärung" tabulos verbunden. Man wird sehen, wie der nächste Band die Metakritik des Rationalismus als Bewegungsmoment der Moderne selbst in der Romantik veranschaulichen wird. Zunächst aber sei das bislang vorliegende, zweiteilige Werk einer mustergültigen Darstellung deutscher Literatur seit den Anfängen jedem Interessierten nachdrücklich empfohlen.

 

Fototext: Bibliothek in den Hallenser Franckschen Stiftungen: Nicht nur Dokumentation mentaler Ordnungen

Peter Nusser: Deutsche Literatur im Mittelalter - Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen. Verlag Alfred Kröner, Stuttgart 1992, 410 Seiten, 19,50 Euro

Peter Nusser: Deutsche Literatur von 1500 bis 1800 - Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen. Verlag Alfred Kröner, Stuttgart 2002, 511 Seiten, 20 Euro


 
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