© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
Nach mehr als zweitausend Kilometern im Kanu sind alle Zipperlein wie weggeblasen
Kur ohne Attest: Reflexionen über Völkerverständigung anläßlich einer internationalen Flußwanderfahrt von Deutschland durch Österreich, die Slowakei, Ungarn und Serbien bis nach Bulgarien
Karl van den Driesch

Flirrende Mittagshitze. Die Gassen im serbischen Donji Milanovac sind um diese Zeit nur spärlich belebt. Eine Eisdiele lockt mit buntem Angebot. Die Farben signalisieren ein breites Spektrum: von gängiger Zitrone, über Erd- und Himbeere, Schokolade, Nuß bis hin zu Farben, die nicht zuzuordnen sind. Kein Unterschied im Geschmack, stelle ich enttäuscht fest. Doch die hübsche Bedienung mit ihren wachen Augen animiert mich zu einer zweiten Portion. Dann schlendere ich gemächlich zurück zu meinem Zelt und den Kumpanen der "Tour International Danubien".

Die Tour, nach ihren Anfangsbuchstaben populär nur "TID" genannt, ist die längste offiziell organisierte Flußwanderfahrt der Welt für Kanus mit einer Strecke von 2.082 Kilometern. Sie findet jährlich im Sommer auf der Donau statt, auf dem zweitgrößten Strom Europas nach der Wolga, von Ingolstadt bis hin ins bulgarische Silistra. An der Tour nehmen Kanus, Faltboote, starre Kajaks und Kanadier teil, auf unverblockten Strecken sind auch Sportruderboote zu sehen, vornehmlich Achter. Im letzten Jahr war überdies eine kleine Kajütjolle mit von der Partie.

Die Initiative ergriffen Wanderfahrer aus der Slowakei und Ungarn im August 1956. Man fuhr die Strecke Preßburg-Budapest, die Ungarn waren ab der Grenze dabei. Das Unternehmen hatte den Namen "Fahrt zur Förderung des Friedens und der Freundschaft auf der Donau", was allerdings den Ungarn-Aufstand und sein Scheitern im Oktober/November nicht verhindern konnte.

Die Idee, eine solche Freundschaftsfahrt zu wiederholen und auszubauen, die Teilnahme weit zu öffnen, fand sogar die Unterstützung der Staatsparteien in den sozialistischen Bruderländern. Bereits 1957 war schon Jugoslawien dabei, 1959 Österreich, die Strecken variierten. Auf den heutigen Namen und das Kürzel einigte sich 1961 ein internationaler Organisationsausschuß, zu dem auch die führenden Wassersportverbände der beteiligten Donaustaaten gehören. Die Bundesrepublik schloß sich 1965 an, Bulgarien 1966. Seit 1969 wird die heutige Distanz Ingolstadt-Silistra mit einem Zeitansatz von zwei Monaten (64 Tagen) gefahren.

Der politische Impuls, Kontakte und Verständnis unter den Nationen auch auf diese Weise zu beflügeln, ist bis heute erhalten. Während des Kalten Krieges war die Wanderfahrt ein Element deutsch-deutscher Begegnung, nur in den Jahren von 1967 bis 1973 hatte die DDR eine Teilnahme unterbunden. Rumänien, das die Fortführung der TID bis zum Schwarzen Meer ermöglichen könnte, verweigerte sich bislang, weil dort - wie es heißt - Wanderfahrten nicht bekannt sind. Auch das neue Kroatien, Donauanrainer, steht noch abseits. Die Überlegung liegt nahe, ob nicht über finanzielle Stützen eine Teilnahme zu erreichen wäre.

Die TID-Organisation betont ihre Distanz zum professionellen Fremdenverkehrswesen; sie hat Amateurstatus, sie kennt keine hauptamtlichen Mitarbeiter. Jährlich legt sie Zeltplätze und Tagesdistanzen bis zu 61 Kilometer fest, zwölf Ruhetage werden eingeplant. Die Plätze verfügen zumeist, doch nicht immer über kommode Ein- und Ausstiegsstellen, über sanitäre Anlagen und Einkaufsmöglichkeiten.

Während der Kanute Zelt, Schlafsack, Kleidung, Kochset und Verpflegung im wetterfesten Boot mitführt, haben die Sportruderer wegen fehlender Stauräume ein Gepäckfahrzeug im Einsatz. Trotz mäßiger Gebühren - 330 Euro für Kanuten von Ingolstadt bis Silistra mit Rücktransport - bringt es die Non-Profit-Organisation immer wieder fertig, pro Fahrtag eine warme Mahlzeit plus Getränk kostenfrei bereitzustellen, Ruhetage ausgenommen. Die Mittel speisen sich deutscherseits aus Gebühren, Spenden, einem Zuschuß des Deutschen Kanuverbandes und des Deutschen Ruderverbandes und einer Zuwendung des Auswärtigen Amtes, das den politischen Aspekt der Völkerverbindung promoviert. Finanzschwache Mitgliedsländer partizipieren über einen Solidarausgleich.

Jeder ist selbstverantwortlich. Eine Abmeldung beim nationalen Gruppenleiter wird erwartet, wenn man abseits zelten oder auch mal zwei Etappen durchfahren will. Neben den Gruppenleitern ist ein übergeordneter Leiter pro Donauland Ansprechpartner. Er korrespondiert täglich mit den nationalen Leitern, informiert über das Geschehen am nächsten Zeltplatz und führt zu den - Teilnehmer limitierten - Empfängen, die etliche Städte und Gemeinden am Strom ausrichten. Vor sechs Uhr darf niemand aufbrechen, bis zur Dunkelheit soll das Etappenziel erreicht sein, unabhängig von den Wetterverhältnissen. Die Empfehlung, nie allein zu fahren, kollidiert mit dem persönlichen Fahrstil; denn wer sich auf einen schnelleren oder langsameren Partner einstellt, büßt Kräfte ein, leidet. Deshalb, und auch wegen persönlicher Startzeit-Vorlieben verlieren sich täglich die 90 bis 200 Teilnehmer aus aller Welt einsam auf dem Strom.

Das Paddeln wird zur fast meditativen Beschäftigung, falls nicht rauhes Wetter hohe Konzentration erfordert. Nur auf den Zeltplätzen ist die internationale TID-Gemeinde beisammen. Die fluktuierende Zahl ergibt sich aus den Freizeitpolstern. Wer keine zwei Sommermonate erübrigen kann, muß Teilstrecken belegen. Der ein oder andere startet auch schon mal im Bereich der Donauquelle oder fährt nach dem offiziellen Ende in Silistra weiter bis ins Donaudelta am Schwarzen Meer. Ein Rücktransport von Starrbooten wird jedoch nur in Ungarn, Jugoslawien und Bulgarien ermöglicht.

Die Daten zeigen, daß keine noch so findige Einzelperson den organisatorischen Rahmen dauerhaft in Szene setzen kann. Kathy, eine TID-begeisterte Lehrerin aus den Staaten, hat es einmal versucht. Im Sommer 1989 organisierte sie eine "Tour International Connecticut", an der 15 Kanuten teilnahmen. Man fuhr auf dem Fluß drei Wochen und bewältigte 1.000 Kilometer. Doch es blieb bei diesem Versuch einer Kopie, die Arbeit am Projekt war für eine Person allein auf Dauer nicht zu schaffen.

Die TID-Organisation setzt Akzente, doch das Herz der Wanderfahrt, ihre Faszination speist sich aus anderen Quellen. Die TID ist Milieu. Ein soziales Gebilde also, das durch Menschen einer sportlich-naturverbundenen Art und ihr Umfeld geprägt wird. Es ist ein überwiegend konservatives Milieu. Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit und Mitmenschlichkeit haben eine selbstverständliche Praxis. Die sozialen Unterschiede sind im Miteinander eingeebnet, man stellt sie nicht aus. Der Raumfahrtspezialist hilft dem pensionierten Polizisten beim schwierigen Ausstieg. Die 81jährige Helma, weit entfernt von den lächerlichen Alten im Fernsehen, fragt den 19jährigen Patrick, ob er beim Einbooten allein zurechtkommt. Und als die Kajütjolle bei Wind und Wellen auf den Uferkies gezogen werden muß, dreht sich niemand weg.

Frauen sind in der Minderheit. Man sitzt mit seinem Gefährten in einem Zweier oder auch schon selbstbewußter im Einer, den Kradfahrern nicht unähnlich. Der Einer hat mehr Stauraum, läßt sich mit dem Bootswagen leichter transportieren und steht für mehr Individualismus, auch für eine Ideal-Synthese Boot/Fahrer. "Im Zweier", provoziert Margret, "habe ich lange genug gesessen, um ihn mit hochgezogenen Augenbrauen als biedere, langweilige Barbarei abzutun." Geschmackssache? Logisch, doch auch mit einem Schuß Ideologie. Die attraktive Einerpilotin Svetlana (33), Elektro-Ingenieurin aus Bulgarien und Mutter eines zehnjährigen Sohnes, wird bei einem Fest mit den Dorfbewohnern im jugoslawischen Bogojewo zur Miss TID gekürt, völkertrennende Ressentiments sind nirgends spürbar. In Novi Sad zeigte Miss TID später, was free climbing sein kann: wie schwerelos zog sie sich an einer Wettkampfwand zum Zielbalken hoch, immer wieder, nicht nur TIDler applau-dierten.

Beiläufig erfährt man von Kompromissen, wenn die Frau oder Gefährtin dem Sport nichts abgewinnen kann. Manche setzen ihren Männern Fristen, drei Wochen vielleicht. Andere gewähren eine TID-Teilnahme für drei gemeinsame Urlaube auf dem Bauernhof, beispielsweise. "Hast Du schon eine Frau verführt?", fragte Rolli scherzhaft schnoddrig in Belgrad. Als ich verneinte, kommentierte Helmut: "Das ist auch nicht so einfach auf der TID." In der Tat. Es liegt an der Einstellung der TID-Weiblichkeit, welche die Zeltplätze nicht als 68er-Kommunen begreift. Das Eingehen einer Liaison ist denn auch nicht gang und gäbe. Nur die Prinzessin, wie wir sie nannten, dutzendfach Gefühle im Gepäck, hatte sich schließlich mit einem US-Faltbooter verbandelt, gut anzuschaun, kein Thema für die Boulevardpresse, kein Thema für Geschichten.

Die meisten TIDler sind dem Heute zugewandt. Doch der Zeitgeschichte kann man nicht ganz entgehen. Der Schiffsverkehr auf dem Strom ist mäßig, eine Folge des Kosovo-Krieges.

Durch Bomben wurde in Novi Sad die vierspurige "Freiheitsbrücke" zerstört, die - im Strom liegend - zusammen mit dem Behelf einer Pontonbrücke die Schiffahrt beeinträchtigt. Ein großes Freizeitgelände, "Strand" genannt, umgibt die Brückenreste am linken Ufer, ein optischer Krieg/Frieden-Kontrast. Die Beseitigung des imposanten Hindernisses ist angekündigt, die Europäische Union beteiligt sich mit 85 Prozent an den Kosten, der Rest wird wohl von Donauanrainern finanziert; damit ist aber ein Neuaufbau und ein Abbau der hinderlichen Pontonbrücke noch nicht in Sicht. Brücken, die beschädigt waren, sahen wir bereits in Bogojevo und Backa Palanka, sie führten hinüber zum kroatischen Nachbarn auf der anderen Flußseite. Der Sinn solcher Luftanschläge weitab vom Kosovo-Geschehen bleibt unbegreiflich.

In Belgrad wurde eine Stadtführung mit Bus arrangiert. Die trotz hoher Arbeitslosigkeit ansprechend gekleidete Bevölkerung ließ sich mit Hinweis auf eine prosperierende Schattenwirtschaft erklären. Der Stadtführer war jedoch bemüht, die jüngste Geschichte auszusparen, Fragen zu den aktuellen Brandspuren an einem großen Gebäude waren ihm unangenehm. Und so sahen wir weder die Bombenruine des Generalstabs noch die des Zentral-Komitees oder gar die des Polizeipräsidiums, nicht die Schlangen der Bedürftigen vor den Suppenküchen, auch nicht die Straßenzüge voll mit kleinen Buden und Ständen serbischer Flüchtlinge aus Bosnien und Kroatien, die so ein bescheidenes Auskommen hier fanden - Symbole des heutigen Belgrads, wie man anderweitig erfuhr. Doch unser Führer wollte Gutes tun. Er führte uns in einen Park mit einem deutschen Kriegerdenkmal aus dem Ersten Weltkrieg. Dort ehrte ein gesondertes Mal auch den damaligen Gegner mit der Inschrift "Den serbischen Helden". Eine Geste, die in unseren Zeiten der Guten und Bösen verlorengegangen ist. Das Ansinnen, die Busgruppe dort zu fotografieren, stieß auf Widerstand und Achim knurrte: "Es gibt keine Helden, nur Opfer!" Selbstlose Risikobereitschaft - und nichts anderes bedeutet Heldentum - steht über derart pauschalisierenden Klischees. Vietnam wäre nicht Vietnam, wenn es solche Bereitschaft nicht gegeben hätte.

Die Donau ist in der Bundesrepublik und in Österreich stark versiegelt, die vielen Staustufen haben dort eine Art Seenplatte geschaffen. In der Slowakei und in Ungarn zeigt sich der Strom schon natürlicher, um in Jugoslawien und Bulgarien große Ursprünglichkeit zu erreichen. Das marode Atomkraftwerk Kosloduj an der bulgarischen Donau-Trasse ist auch den Kanuten ein gefährliches Ärgernis. Doch die Sicherheitskriterien sind andere in einem der ärmsten Länder Europas, wo 30 Prozent der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, nicht zuletzt durch den Kosovo-Krieg, der den erheblichen Wirtschaftszweig Donauschiffahrt in Mitleidenschaft zog. Auffallend, daß im Süden die einst großen Ufer-Sandbänke zurückgegangen und Modderflächen gewichen sind. Auch ein gelegentlich zäher Morgendunst ist jüngeren Datums. Besondere Bedeutung hat für ältere TID-Teilnehmer ein gesundheitlicher Effekt: Wer nicht aufgibt, dem sind Zipperlein wie weggeblasen, und die guten Blutwerte erfreuen nicht nur Ärzte.


 
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