© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
Millionen auf Arbeitssuche
Türkei: Trotz des Reformpakets des Parlaments wird ein EU-Beitritt schon an ökonomischen Fakten scheitern
Ivan Denes

Ich muß Ihnen sagen, für mich - im Gegensatz zu Herrn Stoiber - ist es ganz klar, daß eine demokratische Türkei, eine Türkei, die die Menschenrechte akzeptiert, die die Kopenhagener Kriterien akzeptiert, selbstverständlich Mitglied der Europäischen Union sein kann, genau so wie Polen, wie Ungarn, wie Rumänien und Bulgarien - wenn die Kriterien erfüllt sind. ... Die Angst, daß nun Wirtschaftsflüchtlinge, daß es zu einer großen Welle von Menschen kommen würde, die in die Bundesrepublik kommen, die halte ich für völlig übertrieben", erklärte Grünen-Chefin Claudia Roth letzte Woche euphorisch im Deutschlandfunk.

Und vor allem im rot-grünen Lager und in der diesem nahestehenden Publizistik ist infolge der vom türkischen Parlament verabschiedeten Reformen - unter anderem Abschaffung der Todesstrafe, Zulassung der kurdischen Sprache in Medien und Unterricht, Freigabe der Kritik an Regierung und Militär - eine richtige Euphorie ausgebrochen. Zudem sei es der Initiative von Außenminister Joseph Fischer zu verdanken, daß der EU-Gipfel in Helsinki 1999 die Türkei in den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhoben hat. Doch Fischers Türkei-Engagement könnte einer der fragwürdigsten "Erfolge" werden, die der Grünen-Politiker nach seiner vermutlichen Abwahl am 22. September hinterlassen wird.

Von der praktischen Umsetzung des türkischen Gesetzespaketes - das in sich minimalistisch und eigentlich selbstverständlich ist - redet man in Deutschland fast überhaupt nicht. Und man verdrängt in der aktuellen Türkei-Euphorie, daß die EU - trotz aller Kopenhagener Beschlüsse - nicht identisch ist mit dem Europarat, also keine "Menschenrechtsgemeinschaft", sondern vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Doch durchdrungen von der allgegenwärtigen "Multikulti"-Philosophie fordern daher naive Politiker vom Schlage einer Claudia Roth die umgehende Benennung eines Termins für die Einleitung der EU-Beitrittsverhandlungen: "Ja, auch Ihr habt die Möglichkeit, in die Europäische Union gleichberechtigt aufgenommen zu werden."

Unbeachtet bleibt die Tatsache, daß zur Zeit das durchschnittliche Monatseinkommen in der Türkei nur wenig über 204 Euro liegt. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf beläuft sich auf gerade mal 2.900 Euro. Zum Vergleich die drei schwächsten EU-Länder: Portugal 11.030 Euro, Griechenland 12.110 Euro, Irland 21.470 Euro. Im letzten Jahr betrug die Inflationsrate 54,4 Prozent - im EU-Schnitt 2,3 Prozent. Um einen solchen Rückstand auch nur teilweise aufzuholen, braucht selbst ein stabiles, reformwilliges Land viele Jahre. Laut UN-Schätzung wird sich die Einwohnerzahl der Türkei in den kommenden 25 Jahren von derzeit fast 70 Millionen auf 87 Millionen erhöhen.

"Wenn die Türkei heute in die Europäische Union aufgenommen werden sollte, wäre sie hinter Deutschland die stärkste Macht im Europäischen Parlament. Wenn die Türkei in die Europäische Union aufgenommen werden sollte, würden Millionen von Türken versuchen, nach Mitteleuropa, nach Westeuropa, vor allen Dingen nach Frankreich, Deutschland, Holland zu gehen, um Arbeit zu suchen", prophezeit Nail Alkan, Direktor des Europa-Institutes an der Universität Ankara.

Ohne milliardenteure Hilfen aus Brüssel würde die junge türkische Industrie unter dem EU-Wettbewerbsdruck - wie das schon seit zwei Jahren wankende Finanzsystem - innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen. Unvorstellbar, welche Subventionslast auf die EU - und daher auch auf den deutschen Steuerzahler - zukommen würde, um der anatolischen Landwirtschaft (die im Ostteil des Landes noch zum Teil im Begriff ist, aus dem Mittelalter zu kommen) die gleiche Behandlung zukommen zu lassen wie der EU-Landwirtschaft. Die weitaus modernere Landwirtschaft des nur halb so bevölkerungsreichen Polens bereitet der EU schon genug Kopfzerbrechen.

Kemal Dervis, der Ex-Weltbankdirektor, der die Wirtschaftsreformen im Auftrag des Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeleitet hat, wurde nunmehr vom schwer erkrankten linksnationalen Ministerpräsident Bülent Ecevit aus der Regierung gedrängt. Aber selbst der angesehene Wirtschaftsexperte wird seinem Land nicht über Nacht neue Strukturen erbauen können, selbst wenn er in einer zukünftigen Mitte-Links-Regierung eines Ministerpräsidenten Ismail Cem - dem EU-begeisterten Ex-Außenminister - Wirtschaft und Finanzen lenken sollte.

Gegen eine türkische EU-Mitgliedschaft sprechen auch Politiker wie Necmettin Erbakan, der 1996 Ministerpräsident der Türkei wurde, nachdem seine islamistische Tugendpartei aus freien und geheimen Wahlen als stärkste Partei hervorgegangen war. Seine ersten Wege führten ihn zu Libyens Staatschef Gaddhafi und zu den Mullahs nach Teheran, mit denen er einen umstrittenen Erdgasvertrag unterschrieb. Aus dem Amt getrieben wurde er im Juni 1997 von den - in der EU kritisch beäugten - Generälen, die schon dreimal in den letzten Jahrzehnten in dem zu politischem Chaos neigendem Land eingegriffen hatten.

Der politische Ziehsohn Erbakans, der ehemalige Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, der inzwischen - nach dem Verbot der Tugendpartei 1998 - die angeblich gemäßigtere Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) anführt, hat sich vom EU-Gegner zum Europa-Freund gewandelt. Für den 48jährigen einstigen "Imam von Istanbul" (Erdogan über Erdogan) garantiere die EU "Meinungs-, Gedanken- und Gewissensfreiheit" - auch für Islamisten.

Erdogan lehnt daher offiziell Geheimorden und islamistische Bruderschaften ab, doch vor fünf Jahren mußte er wegen islamistischer Propaganda noch für vier Monate ins Gefängnis. Bei den Wahlen im November scheinen Erdogan und seine AKP beste Chancen zu haben, als stärkste Fraktion ins Parlament einzuziehen. Und es ist nicht auszuschließen, daß nach den Wahlen im November oder nach den Wahlen 2006 nicht eine fundamentalistische Regierung - womöglich in Koalition mit der EU-feindlichen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) von Devlet Bahceli - an die Macht kommen könnte.

Dies könnte wiederum einen Eingriff des Militärs bedingen, denn die türkische Demokratie bleibt letztendlich nur so lange bestehen, bis die Generäle befinden, daß sie nicht zu weit gegangen ist. Und das Militär wird, trotz seiner laizistischen Ausrichtung, auch bei gewissen Traditionen, etwa im Bereich der Frauenrechte, kaum Konzessionen zulassen.

Weiß eigentlich Claudia Roth, daß, wenn ein Vater erfährt, daß seine Tochter keine virgo immaculata mehr ist und er sie wegen Schändung der Familienehre tötet, er vor jedem türkischen Gericht mildernde Umstände bekommt? Hat der Integrationsunwille und die Integrationsunfähigkeit der über zwei Millionen in der Bundesrepublik lebenden Türken nicht ausreichenden Anschauungsunterricht über ein zukünftiges Verhalten der Türkei in der EU geliefert?

"Für mich ist die Europäische Union nicht der Hort des christlichen Abendlandes", meint die Grünen-Chefin. Ein Hort des Islam wird die Union aber auch nicht werden wollen. Und ob sich die über 16 Millionen Kurden in der Türkei mit ein paar Zugeständnissen von ihren Unabhängigkeitsbestrebungen abhalten lassen erscheint fraglich, insbesondere wenn im Norden Iraks ein - wie auch immer gearteter - Kurdenstaat enstehen sollte. Die Türkei in der EU: das heißt auch Kurdistan in der EU.


 
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