© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/02 09. August 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Offizielle und inoffizielle Realitäten
Carl Gustaf Ströhm

In Ländern mit schwierigen politischen Verhältnissen über-nimmt der politische Witz die Aufgabe, die sonst Analytikern und Kommentatoren zukommt: die Lage so zu schildern, wie sie ist - und nicht etwa so, wie sie Interessenten und Machthaber gerne haben möchten.

Einer dieser charakteristischen Witze, wie es sie in Deutschland schon lange nicht mehr gibt, spielt in Bosnien-Herzegowina. Haso und Mujo - zwei moslemische Typen, die man am ehesten mit Tünnes und Schäl in Köln vergleichen könnte - treffen einander auf der Straße. Haso trägt eine Maschinenpistole samt Patronengurt auf der Schulter. Mujo sagt zu ihm: "Haso, wieso läufst du mitten im Frieden mit diesem Schießprügel herum?" - "Weil ich ihn brauche!" - "Aber um Allahs Willen, wozu brauchst du jetzt, da doch das Dayton-Abkommen implementiert und das friedliche Zusammenleben aller Völker verwirklicht wird, eine Waffe?" - Antwort von Haso: "Du sagst es ja selbst, Mujo. Ich brauche sie wegen dem friedlichen Zusammenleben mit den Serben."

Diese kleine Episode zeigt deutlicher als viele politologische Abhandlungen eine Tatsache, die von vielen westlichen "Therapeuten" am bosnischen Krankenlager nur zu gern übersehen wird: daß es auf dem Balkan nicht eine, sondern zwei Wirklichkeiten gibt: "das offizielle Land" - und im Gegensatz dazu das "reelle Land" (le pays réel), wie die Franzosen zu sagen pflegen.

Ein typischer Fall von "offizieller" vordergründiger Wirklichkeit war das jüngste Treffen der drei Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosniens in Sarajevo. Vojislav Kostunica, Stipe Mesic, und ihr bosnischer Gastgeber Beriz Belkic, sollten die "regionale Zusammenarbeit" - eines der Steckenpferde westlicher Balkanpolitik - in Gang bringen. Und sie sollten auf ihre jeweiligen Landsleute in Bosnien einwirken, damit diese den gemeinsamen Staat Bosnien-Herzegowina akzeptieren - was bis heute nicht der Fall ist. Doch der Serbe Kostunica befindet sich in Belgrad im Dauerkonflikt mit seinem Premier Zoran Djindjic. Was er bei seinen serbischen Landsleuten in Bosnien durchsetzen kann, die in der bosnisch-serbischen "Republika Srpska" ihren Separatstaat aufgebaut haben, ist die große Frage.

Die Hoffnung, der Kroate Mesic könne auf seine Landsleute, besonders in der West-Herzegowina (Mostar) besänftigend einwirken, damit die sich doch nach Sarajevo - und nicht wie bisher nach Zagreb oder Split - orientieren, ist schon deshalb illusorisch, weil das Ansehen Mesics bei den Herzegowina-Kroaten gleich Null ist. Hier werden ihm seine abfälligen Äußerungen über die Herzegowiner nicht verziehen.

Was aber die bosnischen Moslems - das Mehrheitsvolk in dem "gemeinsamen" Staat betrifft, sind sie, vor allem seit dem 11. September 2001, zutiefst verunsichert. Natürlich wird jetzt betont, die bosnischen Moslems seien gar keine so strengen Gläubigen: sie tränken Wein, verzehrten Schweinebraten und seien jeglichem Fundamentalismus abhold. Aber haben nicht islamische Fundamentalisten als erste die Moslems im Kampf gegen die großserbischen Invasoren unterstützt?

Mehrere dieser oft arabischen Kämpfer, die von einem bosnischen Gericht freigesprochen wurden, mußten anschließend doch an die USA ausgeliefert werden. Das erscheint vielen Moslems als schwere Demütigung. Die Frage, ob die bisherige westliche Bosnien-Politik nicht auf Illusionen und wishful thinking beruht, steht unbeantwortet im Raum.


 
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