© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Auf der Suche nach dem eigenen Leben
Kino I: Dominik Grafs Melodram "Der Felsen" spaltet mit seiner verstörenden Intensität die Gemüter
Ellen Kositza

Manchmal will der Verdacht naheliegen, daß die Misere des deutschen Kinofilms nicht so sehr an seinen Protagonisten, als vielmehr an seinem Publikum liegt. Flachsinn wird goutiert, vor allem der internationale, während ausgezeichnete Filme nicht selten schlicht am mangelnden Zuschauerinteresse scheitern.

So ging es Dominik Graf zuletzt 1994, als sein bravouröser, teilweise radikaler Spielfilm "Die Sieger" (mit immerhin Zwölf-Millionen-Budget) über Kohl-Deutschland aus Sicht einer SEK-Einheit an den Kinokassen gnadenlos floppte. Fortan kümmerte sich Graf, Jahrgang 1952 und immerhin seit bald 25 Jahren erfolgreich im Regiegeschäft, um das Fernsehen, lieferte dort unter anderem die populäre "Kommissar-Sperling"-Reihe, Tatort-Filme und 1997 das aufsehenerregende Vater-Sohn-Drama "Der Skorpion". Der Münchner gilt als einer der besten, auch der teuersten deutschen Regisseure und wurde bereits mit sämtlichen relevanten Preisen vom goldenen Bundesfilmpreis ("Die Katze") bis zu mehreren Grimme-Preisen ausgezeichnet.

Nun wagt sich der Künstler mit einem Melodram wieder auf die große Leinwand. Katrin, Mitte Dreißig (Karoline Eichhorn), begleitet ihren Chef Jürgen (Ralf Herforth) auf eine Dienstreise nach Korsika. Seit über einem Jahr ist sie seine heimliche Geliebte. Nun teilt er ihr mit, daß seine Frau ein Kind erwartet und er daher beschlossen hat, die außereheliche Liaison zu beenden. Jürgen und Katrin halten sich für erwachsene Menschen, vernunftbegabt daher, und kommen überein, die verbleibende knappe Woche noch als Liebende zu verbringen, um so von ihrer "Beziehung" Abschied zu nehmen.

In erschreckender Aufgeklärtheit und betonter Offenheit verbringen sie noch einen Tag und eine Nacht, als Jürgen beschließt, den Kongreß sausen zu lassen und nun doch vorzeitig abzureisen. Nunmehr Ex-Geliebte, bleibt Katrin zurück, scheinbar nur leicht getroffen. War etwas? - scheint ihr zutiefst kindlich gebliebenes Gemüt zu fragen. Alles andere als aufreizende femme fatale, eher die ungeschminkte Infantilität in Person, reichlich oberflächlich und leicht egozentrisch, stürzt sie sich kichernd ins Nachtleben, läßt sich schnell verführen und schließlich gar von einem offensichtlich Minderjährigen (Antonio Wannek aus "Wie Feuer und Flamme" und "Soweit die Füße tragen") anmachen. Er heißt Malte, und sie hat ihn schnell vergessen, doch zwei Nächte vor ihrem Abflug findet sie den Jungen in ihrem Ferienappartement. Er gesteht ihr seine Liebe, sie lacht ihn aus. Geschmeichelt ist sie trotzdem, und aus Neugierde sucht sie am folgenden Tag das "städtische Jugendcamp" auf, in dem er vorgab, derzeit zu leben. Der Leiter des Lagers (Peter Lohmeyer) klärt sie darüber auf, daß Malte im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms auf der Insel ist: Der Schwerkriminelle saß in Deutschland im Jugendknast, das Sozi-Abenteuer auf Korsika sei seine letzte Chance, die er gerade am Verspielen sei. Katrins halbherziger Rückzug kommt zu spät, der Junge ist ihr verfallen, und mit ohnmächtiger Willenlosigkeit verhilft die Frau, die seine Mutter sein könnte, dem mal tollkühnen, mal enervierend kindischen Liebhaber zur Flucht. Dabei überschlagen sich die Ereignisse schicksalhaft, denn auch Jürgen ist nicht wirklich abgereist ...

Selten, von Tom Tykwers Filmen einmal abgesehen - tatsächlich gibt es innere Parallelen zu dessen letztem Werk "Heaven" (JF 9/02) -, sieht man Kinofilme von derartiger Intensität, die das Problem der Darstellbarkeit von Gefühlen ohne Plattitüden und abgegriffenen Pathos meistern. Graf hat hier die, wie er sagt, durchaus "repräsentative Lebenslüge" einer Frau, die ihr Leben nie wirklich ergriffen hat, die aus Schwäche Verantwortung und wahrer Liebe mit einem freundlichen Lachen aus dem Weg ging, zum Thema seines in jeder Hinsicht perfekten Films gemacht.

Mit digitalen Handkameras zu arbeiten ist längst schick und selten überzeugend im europäischen Kino, hier - aus Kostengründen unmittelbar vor Drehbeginn entschieden - ist es ein genialer Kunstgriff geworden: Der Zuschauer wird gleichsam in die Handlung eingesogen. Dagegengesetzt wird die Stimme aus dem off (Corinna Harfouch), die das Geschehen erläuternd rafft, auch mal eine nie geschriebene Postkarte verliest, dies dennoch beinahe dokumentarisch und auf diese Weise eine Art kühler Distanz herstellt.

Vor der Verleihung des Deutschen Filmpreises im Juni galt "Der Felsen" und gerade Antonio Wannek als ganz große Hoffnung für eine Auszeichnung mit Gold. Tatsächlich ist allein der Filmschnitt (Hana Müller) prämiert worden. Immerhin hatte der verstörende Film schon auf der Berlinale das Publikum deutlich gespalten.


 
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