© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Einen Traum zu spät
Böhmische Spurensuche: Ein Besuch im Prager "Café Slavia" am Ufer der Moldau
Thorsten Hinz

Jaroslav Seifert, der tschechische Lyriker und Literaturnobelpreisträger, erinnert sich in seinen Memoiren mit Wärme an den "Qualm und Mief im alten ‚Café Slavia'". Direkt am Prager Moldau-Ufer und neben dem Nationaltheater gelegen, eröffnen seine Fenster zur Flußseite eine betörende Aussicht auf die Prager Kleinseite und den Hradschin. Für die jungen tschechischen Literaten der zwanziger Jahre ließ es sich hier gut von Paris - statt von Wien oder Berlin - träumen (O-Ton Seifert: "und blickten wir durchs Fenster,/ floß unter dem Kai die Seine./ Ach ja, die Seine!"), während sie den Absinth, den hochprozentigen grünen Schnaps, süffelten. Auch Vitezlav Nezval, als "Prager Spaziergänger" ein Pendant zum Berliner Flaneur Franz Hessel, dachte gern zurück an die "lockeren Sitten" im Slavia, die "mit einer gewissen unmittelbaren Aufrichtigkeit" gepflegt wurden, und an die eigene jugendliche "Naivität, die zur Kunst gehört (und) hier wahre Triumphe" feierte.

Weniger freundlich sind die Erinnerungen von Ota Filip, der 1974 wegen anhaltender Verfolgung nach Deutschland ausreiste. In einem seiner melancholischen Aufsätze beschreibt er, wie ihm Heiligabend 1949 just an diesem Ort die Freundin von einem alten Knacker, der zufällig Kulturattaché in Paris war, abspenstig gemacht wurde. Seine Freundin wollte um jeden Preis raus aus dem kommunistisch gewordenen Land.

1985 veröffentlichte Filip den Roman "Café Slavia". Vom Café-Fenster aus verfolgen der Ich-Erzähler und Verwandlungskünstler Nikolaus Graf Belecredos und sein Kellner Alois den Lauf der böhmischen Geschichte zwischen 1910 und 1968. Die Gebrüder Capek und Jiri Grusa, Regimegegner, Exilant und jetzt Botschafter in Wien, gehörten ebenfalls zu den Gästen.

Bis in die dreißiger Jahre war die Einrichtung spartanisch. Sie bestand aus Thonetstühlen - Sitzmöbel aus gebogenem Holz -, wackeligen Sofas und Tischen mit künstlichen Marmorplatten. Dann verordnete ein Konditoreibesitzer dem Lokal eine Wandtäfelung aus glänzenden Hölzern, Kristallüster und geschliffene Spiegel.

In den Memoirenbüchern Seiferts und Nezvals kommen kaum deutsche Autoren vor, obwohl genügend deutschsprachige Berühmtheiten aus Prag stammen. Rilke, der gebürtige Prager, hat in den 1899 verfaßten Erzählungen "König Bohusch" und "Die Geschwister" das schon damals komplexbeladene Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen erfaßt. "Wie ein Kind ist unser Volk", erklärt ein junger tschechischer Nationalist. "Manchmal seh ich es ein: unser Haß gegen die Deutschen ist eigentlich gar nichts Politisches, sondern etwas - wie soll ich sagen? - etwas Menschliches. Nicht, daß wir uns mit den Deutschen in die Heimat teilen müssen ist unser Groll, aber daß wir unter einem so erwachsenen Volk groß werden, macht uns traurig. Es ist die Geschichte vom Kinde, welches unter Alten heranwächst. Es lernt das Lächeln, noch ehe es das Lachen gekonnt hat."

Was Rilke meinte, ist im Historischen Museum im Palais Lobkowitz auf dem Hradschin (nicht zu verwechseln mit dem Palais gleichen Namens, in dem der deutsche Botschafter residiert) zu besichtigen, in der - leicht angestaubten - Ausstellung zur Geschichte Böhmens von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert. Im Verständnis der Tschechen bedeutet das Jahr 1620, in dem die Habsburger und ihr Feldherr Wallenstein in der Schlacht am Weißen Berg die böhmischen Stände besiegten und eine katholische Restauration einleiteten, den Auftakt einer nationalen Demütigung. Am 21. Juni 1621 wurden 27 böhmische Männer, Adlige und Bürger, die Elite des Landes, vor dem Altstädter Rathaus hingerichtet.

Als schmerzhafte Wunde wird auch die Verbrennung des Kirchenkritikers Jan Hus 1415 auf dem Konstanzer Konzil empfunden. Diese Geschichte ist in Prag bis heute gegenwärtig. 1915 wurde auf dem Altstädter Ring ein künstlerisch anspruchsvolles Jan-Hus-Denkmal aufgestellt, und vor dem Rathaus ist für jeden der Hingerichteten von 1621 ein Kreuz in das Pflaster eingelassen.

Kein Wunder also, daß die tschechischen Künstler sich lieber an der französischen Avantgarde orientierten. In Seiferts Gedicht "Café Slavia" heißt es weiter: "Durch die Geheimtür vom Moldaukai, / die aus durchsichtigem Glas war, / so daß sie fast unsichtbar blieb, / und deren Angeln / mit Rosenöl geschmiert waren,/ kam manchmal Guillaume Apollinaire."

Reiner Kunze, Lyriker, Übersetzer tschechischer Poesie und mit einer Tschechin verheiratet, hat in seinem 1976 erschienenen Buch "Die wunderbaren Jahre" das "Slavia" als Symbol von Widerstand und Freigeist geschildert. Die Textpassagen sind eine Hommage an die Dichter des Landes, die den "Prager Frühling" 1968 prägten. Als Kunze, damals noch DDR-Bürger, kurz nach dem Einmarsch der Warschauer Pakttruppen wie gewohnt in das "Slavia" einkehrte, wurde er vom Personal konsequent ignoriert. Erst später begreift er den Grund: Das Etikett in seinem Mantel, den er an der Garderobe abgegeben hat, hat seine Herkunft verraten. "Mit einem Mal wurde mir bewußt, daß von dort, woher ich kam, Truppen in die Tschechoslowakei eingefallen waren."

Wer jetzt mit der Straßenbahn über die "Brücke der Legionen" zum Nationaltheater fährt, dem fallen linkshin die blankpolierten Fenster des "Slavia" sofort ins Auge. Soviel Glanz erfordert einigen Aufwand, denn der Abgasausstoß an der Kreuzung Smetanovo / Narodni ist beträchtlich. Betriebswirtschaftlich wird die Mühe sich wohl lohnen. Nach 1989 war das Café von der Schließung bedroht. 1992 wurde es für 50 Jahre an eine russisch-amerikanische Unternehmerin verpachtet. Die Renovierungsarbeiten dauerten mehrere Jahre, begleitet von Streitereien zwischen Stadtverwaltung und Pächterin, in die sich auch der Staatspräsident einschaltete. Erst 1997 wurde das Café wiedereröffnet.

Die Renovierung orientierte sich am Interieur der dreißiger Jahre, genauer gesagt, am Ideal des Art Deco, der Sachlichkeit mit ausladender Gediegenheit kombiniert. Das "Slavia" wirkt großzügig, nüchtern, makellos, steril. Ein bißchen geistig-kulturelle Atmosphäre soll trotzdem sein. Hinten an der Wand hängt das 1905 gemalte Bild "Der Absinthtrinker" von Victor Oliva: Ein Mann mittleren Alters, dem nach reichlichem Prozentegenuß eine attraktive, grün-gläserne Frau erschienen ist. Auf einer Unzahl kleiner Fotos werden die prominenten Gäste präsentiert, auf jedem zweiten ist Václav Havel zu sehen. Doch hat das Café nichts Verschwörerisches, Avantgardistisches oder Verruchtes mehr. Seine Fenster wirken wie Schaufenster. Die Passanten draußen mutieren zu Statisten der Prager Szenerie, die Gäste drinnen zu Zuschauern, die den Ausblick, ihre privilegierte Stellung und schließlich sich selbst genießen. Dennoch geht es massendemokratisch zu, denn die da draußen können jederzeit eintreten, und die drinnen müssen wieder raus!

Das heißt, in Wahrheit findet eine Vorauswahl statt. Für den Besucher aus Deutschland sind die Preise billig, für viele Prager indes teuer. So setzt das Café auf Laufkundschaft, auf Touristen, auf Revolutionsgewinnler. Und das "Slavia" heißt nun "Grand Cafe" und hat den Charme eines eleganten Imbißrestaurants.

Wir haben den besten Tisch ergattert, der genau im Schnittpunkt der beiden Eckfenster steht. Am Nebentisch schlürfen zwei ahnungslose Amerikanerinnen der "Generation Zahnspange" ihre Coca Cola. In ihren Gesichtern spiegelt sich blankes Entsetzen über den Umfang der böhmischen Mittagsportionen, die ihnen serviert werden. An einem anderen Tisch sitzen drei stiernackige Männer um die 60. Sie tragen teure Uhren, die mit ihren schlechtsitzenden Anzügen merkwürdig kontrastieren. Vemutlich ehemalige Parteifunktionäre, die den Sprung in die neue Zeit geschafft haben, ohne mit ihr einverstanden zu sein. Sie starren böse ins Bier und dann auf unseren Tisch, als erwarteten sie einen imperialistischen Überfall.

Der Kellner gibt uns unmißverständlich zu verstehen, daß er eigentlich zu Höherem berufen ist. Als die Bestellung sich auf einen Tee, einen doppelten Espresso und die tägliche Ration Tomatensaft beschränkt, wechselt er einen höhnischen Blick mit zwei jungen Frauen nebenan: Echte Business-Damen, in gutgeschnittenen Kostümen und mit extravagantem Schmuck. Neben den Cocktailgläsern haben sie ihre Handys positioniert.

Wir rächen uns, indem wir die fiesen Touristen spielen. Die Rechnung beträgt 105 Kronen. Wir zahlen 120 und lassen den Kellner, der ein "Stimmt so!" erwartet, endlos zappeln. Verächtlich knallt er uns die Restsumme in kleinen Münzen auf den Tisch. Wir nehmen eine Krone und schieben ihm die übrigen 14 genauso verächtlich zurück. Wir haben uns noch nicht erhoben, da zieht eine Horde Österreicher uns schon die Stühle weg.

Fazit: Der Espresso war nicht schlecht, aber man bekommt in Prag noch bessere. Und der Tomatensaft war entschieden zu kalt. Havel ist ein beliebtes Maskottchen, doch der Geist, den Seifert, Nezval, Rilke oder Ota Filip beschworen haben, läßt sich im "Slavia" kaum mehr erahnen. Wieder zu Hause, finde ich unter dem Titel "Café Slavia" eine Gedichtzeile von Olly Komenda-Soentgerath, die ausdrückt, was uns passiert ist: "Wir kamen einen Traum zu spät".

 

Ota Filip: Café Slavia. Roman. Herbig, München, 270 Seiten, geb., 17,50 Euro

Rainer Kunze: Die wunderbaren Jahre. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 127 Seiten, geb., 14 Euro (auch als Taschenbuch erhältlich)

Vitezlav Nezval: Der Prager Spaziergänger. Volk und Welt, Berlin (vergriffen)

Jaroslav Seifert: Alle Schönheit der Welt. Geschichten und Erinnerungen (vergriffen)


 
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