© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002


Pariser Korridor
von Carl Gustaf Ströhm

Seit den Zeiten der friderizianischen Kriege des 18. Jahrhunderts standen der russischen Europa-Politik fast immer zwei Optionen offen: Man konnte mit den Franzosen gegen Preußen und Österreicher - oder man konnte mit den Deutschen gegen die Franzosen gehen. Letzteres funktionierte besonders im Kampf gegen Napoléon. Erstere hätte Friedrich den Großen beinahe Kopf und Kragen gekostet - wäre nicht die russische Zarin Elisabeth rechtzeitig gestorben.

An solche historischen Parallelen erinnert man sich angesichts der neuen "Entente" zwischen Moskau und Paris, genauer gesagt: zwischen Putin und Chirac. Der französische Präsident ist nämlich in der "Kaliningrad-Frage" aus der hochgepriesenen EU-Solidarität ausgeschert. Es sei, so sagt er, den Bürgern Rußlands nicht zuzumuten, für Reisen in einen anderen Teil ihres Landes ein Visum beantragen zu müssen. Also doch ein russischer "Korridor" durch Litauen oder Polen? Mit dieser Erklärung könnte Chirac das gesamte Schengen-Gebäude der EU zum Einsturz bringen. Wenn die Russen ohne Visum im Transit durch die beiden künftigen EU-Länder reisen dürfen, ist Schengen kein Schuß Pulver mehr wert. Bleibt die Frage: Warum exponiert sich Chirac so stark für die Russen? Will er etwa - trotz aller Europa-Bekenntnisse - mit dem starken Mann in Moskau ein Gegengewicht zu Deutschland schaffen? Während der deutsche Michel sein Nationalgefühl an der Gaderobe abgibt, verfolgen Chirac und Putin knallharte, an nationalen Interessen orientierte Machtpolitik.


 
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