© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   30/02 19. Juli 2002


Rettet den deutschen Sozialstaat
von Michael Wiesberg

Deutschland müsse mehr "Flexibilität ins System" bringen, "deregulieren", "Kündigungen und Einstellungen vereinfachen, die Wirtschaft befreien", empfahl Anfang Juli diesen Jahres den Deutschen der Nobelpreisträger für Ökonomie (1976), Milton Friedman, in der Zeitschrift Capital. Dies alles ist nicht neu, schließlich verkündet Friedman diese Rezepte seit vierzig Jahren urbi et orbi. Der vermeintlichen Zugkraft seiner Argumente sind auch in Deutschland eine Reihe von Zeitgenossen erlegen, die als furchtbare Vereinfacher bei jeder sich passenden Gelegenheit gegen den deutschen Sozialstaat lospoltern. Auch hier hat sich Friedman nochmals als Stichwortgeber in die Debatte eingeschaltet, als er den Deutschen kürzlich in einem Interview für die Welt bescheinigte, "halbe Sklaven" zu sein, weil sie die "Hälfte des Jahres für den Staat" arbeiteten. Genau das wollen Friedmans neoliberale Jünger hören.

In der Vorstellungswelt von Friedman ist der Sozialstaat wenig mehr als eine ungeheure Verschwendung, die zu allem Übel auch noch jegliche Privatinitiative ersticken soll. Das freie Spiel von Angebot und Nachfrage reicht nach Friedman aus, um die Menschen optimal mit Arbeit, Geld und Gütern zu versorgen. In seinem Buch "Capitalism and Freedom" (1962) hat Friedman eine Reihe von Punkten aufgelistet, aus denen sich ableiten läßt, wie er sich die "Befreiung der Wirtschaft", die er den Deutschen empfiehlt, vorstellt. Darin findet sich zum Beispiel die Forderung nach der Beseitigung der Subventionen für die Landwirtschaft und den Wohnungsbau, nach Abbau von Im- und Exportrestriktionen oder die Streichung gesetzlicher Vorschriften über Mindestlöhne bis hin zum Verzicht der öffentlichen Kontrollen über Radio- und Fernsehprogramme. Die Rentenversicherung gehört seiner Ansicht nach ebenso privatisiert wie die staatlichen Hochschulen. Zudem sollten sämtliche staatlichen Lizenzen oder Genehmigungen, die Bürger oder Unternehmen benötigen, um ihren Beruf oder ihr Geschäft ausüben zu können, ersatzlos entfallen.

Zu einem der "einflußreichsten Ökonomen" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Friedman vor allem durch seine einflußreichen Anhänger in der Politik. Der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan bemühte sich ebenso wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die Ideen Friedmans in Politik umzumünzen. Gerade die Bilanz der Ära Thatcher und Reagan aber dokumentiert, wie fragwürdig die Auffassungen Friedmans sind und wie verhängnisvoll es für Deutschland wäre, Friedman und seinen Propagandisten zu folgen.

Am Anfang der Ära Thatcher standen drei Schlüsselmaßnahmen: die Schwächung der Gewerkschaftsmacht, die Reduzierung der städtischen Sozialwohnungen und die Senkung der direkten Steuern. Aus Thatchers Sicht hatte sich der britische Korporatismus, verstanden als die Koordination der Wirtschaftspolitik durch das Kräftedreieck aus Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften, als Instrument zur Schaffung von Wohlstand und als Garant gesellschaftlichen Zusammenhalts überlebt. Deshalb legte Thatcher größten Wert auf eine Reform (sprich: Demontage) der Gewerkschaften und der Berufsverbände. Deren Schwächung wurde auch deshalb mit Vehemenz vorangetrieben, weil diese aus neoliberaler Sicht Partikularinteressen vertreten und damit die Kosten nach oben treiben

Das zweite Kennzeichen der Ära Thatcher und Major war die Privatisierung. Mehr oder weniger alles, was der britische Staat besaß oder woran er Anteile hatte, wurde privatisiert. Mit katastrophalen Ergebnissen, wie das Beispiel der Privatisierung der britischen Eisenbahn zeigt. Eine Fahrt in einem britischen Zug, der, je nach Strecke, einem von 25 Betreibern gehört, ist laut Medien und jenen, die es schon persönlich erlebt haben, eine Erfahrung für sich. Überfüllte, veraltete, verdreckte Waggons und Verspätungen strapazieren die Geduld der Bahnfahrenden. Verspätungen sind an der Tagesordnung, annullierte Züge nicht selten. Und die Preise sind Spitzenklasse im europäischen Vergleich. Zudem steigen diese weit stärker als die Inflationsrate. Preissteigerungen von 20 Prozent sind in Großbritannien keine Seltenheit.

Entgegen den ursprünglichen politischen Beteuerungen sind bis heute immer wieder hohe Subventionen für die privaten Unternehmungen und deren Geschäftsbetrieb gewährt worden. Die privaten Bahngesellschaften nutzen ihre Monopolposition, um trotz schlechter Ergebnisse unverschämt hohe Dividenden und Gratifikationen an das Management zu zahlen. Die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit bezeichnet die Privatisierung der Eisenbahn "als Desaster": "Das fragmentierte, unübersichtliche System, das geschaffen wurde, ist ineffizient, kennt keine Verantwortungsstruktur und kann gelegentlich lebensgefährlich sein." Der Artikel kommt schließlich zu der Schlußfolgerung: "Nicht alle staatlichen Dienstleistungen eignen sich zur Privatisierung, vor allem nicht natürliche Monopole. Eine zivile Gesellschaft braucht kommerzfreie Zonen."

Vor diesem Hintergrund kann es nicht wundern, daß in England derzeit die Wiederverstaatlichung der britischen Eisenbahn diskutiert wird. Neben dem Transportsystem sind auch das Gesundheitswesen und das Erziehungssystem von mangelnden Investitionen, Unterbezahlung, Personalmangel und niedrigen Standards zerfressen und liegen weit unter dem europäischen Durchschnitt. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation könnten 25.000 Briten, die jährlich an Krebs sterben, gerettet werden, wenn die Krankheit rechtzeitig diagnostiziert und behandelt würde. Und ein Fünftel aller Briten verfügt nicht mehr über die mathematischen Grundkenntnisse, um das Wechselgeld zu zählen.

Festgehalten werden muß weiter, daß sich nach zwei Jahrzehnten Regierung Thatcher die Steuern und Staatsausgaben in Großbritannien wieder auf dem Niveau von 1979 befanden, als Thatcher die Macht an die Labour Party abgeben mußte. Und: Die Steuerbelastung der meisten Familien war gegen Ende der Ära Thatcher größer als zu deren Beginn.

Dies alles belastet die Kritiker des deutschen Sozialstaates nicht, die immer wieder auf die "Krise des Sozialstaates" verweisen und darauf, daß dieser nicht mehr finanzierbar sei. Auch hier ist eine Besinnung auf die Ursache und Wirkung erkenntnisfördernd. Am Anfang stand die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte. Die uneingeschränkte Mobilität des Kapitals hat dazu geführt, daß die Finanzierung öffentlicher Güter, also jener Dienstleistungen, die jedem Bürger zugute kommen, für alle Staaten immer schwieriger werden. Der Wettbewerbsdruck, der von Ländern mit Deregulierung ausgeht, zwingt Staaten, die an der sozialen Marktwirtschaft festhalten wollen, ihre Standards erheblich abzusenken. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Einsparungen bei den Sozialausgaben sind also Defensivstrategien, um die Folgen der Politik anderer Länder abzuwehren.

Diese Konkurrenzsituation, die ein Ausfluß der "Globalisierung" darstellt, läuft natürlich dem deutschen Modell, das Vereinbarungen über Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzsicherheit von Beginn miteinander verschränkt hat, deutlich entgegen. Den Kritikern dieses Modells geht dessen Demontage nicht schnell genug. So träumt die Industriemanagerin und Politikwissenschaftlerin Margarita Mathiopoulos den "deutschen Traum, einen liberalen Traum, die Vision einer Gesellschaft, die nicht in der ,Keine Experimente'-,Weiter so'- und ,Ruhige Kugel'-Starre verharrt, sondern die ... verkrustete Strukturen aufbricht". Nur eine "freie Marktwirtschaft" könne im 21. Jahrhundert auch eine "soziale Marktwirtschaft" sein. Dieser Griff in das neoliberale Phrasenarsenal zeigt, das der "amerikanische Traum" Frau Mathiopoulos augenscheinlich die Fähigkeit zum klaren Denken vernebelt hat. Eine "freie Marktwirtschaft" kann per definitionem nicht "sozial" sein. Sie ist vielmehr asozial, weil nur den Gesetzen des Marktes verpflichtet. Dies zeigen die verheerenden Entwicklungen in den USA und in Großbritannien nur zu deutlich. In einer sozialen Marktwirtschaft, wie es die deutsche (noch) ist, tragen die Unternehmen gesellschaftliche Kosten mit. Diese verstehen sich damit auch und gerade als Institutionen, die dem Zusammenhalt der Gemeinschaft, in der sie wirken, förderlich sein wollen. Sobald diese Unternehmen aber auf freien Märkten operieren müssen, werden alle gesellschaftlichen Kosten zur Last. US-amerikanische Firmen haben sich deshalb sozialer Verpflichtungen konsequent entledigt.

Deregulierte Märkte verändern aber nicht nur das Verhalten von Unternehmen, sondern erst recht das von Arbeitnehmern. Hier heißt das neoliberale Zauberwort "Flexibilität". Frau Mathiopoulos, die sich so gerne im Kreis der transatlantischen Eliten bewegt, wird in ihrem Leben wahrscheinlich niemals in die Lage kommen, ein Arbeitsleben als "portfolio person" fristen zu müssen, immer flexibel und als flexible Arbeitskraft ohne längere Bindung an eine Firma oder Institution. Genau dies aber ist das Schicksal vieler US-Amerikaner und der ehemaligen Angehörigen der britischen Mittelschicht, die sich unter Thatcher mehr oder weniger auflöste. Ist es das, was Mathiopoulos et tutti quanti wollen? Die "portfolio person" als neues Leitbild für den faulen, fetten und reichen deutschen Arbeitnehmer? Ist das die große "Freiheit", an die die Deutschen endlich gewöhnt werden müssen?

Für das deutsche Sozialstaatsmodell war bisher der Gedanke leitend, daß eine Marktwirtschaft nicht nur ökonomisch effizient zu sein hat, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schützen und zu befördern hat. Diesem Denken zufolge lassen sich Marktökonomien nicht als freischwebende Einheiten, sondern nur als Erweiterungen von Kerninstitutionen wie der örtlichen Gemeinschaft oder des demokratischen Staates verstehen. Die deutsche Wirtschaft basiert also auf Konsens und Kooperation. Ihr Hauptgrundsatz ist der des "sozialen Paktes", einer Verbindung von Belegschaft, Wirtschaft und Regierung. Regierung, Industrie und Gewerkschaften arbeiten zusammen, um eine Politik der "gegenseitigen Vergünstigungen" ermöglichen zu können.

Diese Interessengemeinschaft bildet den Kern dessen, was als "soziale Marktwirtschaft" bezeichnet wird. Der Lohn spielt in diesem Zusammenhang zwar eine wichtige Rolle, Lebensqualität und Arbeitsbeziehungen haben aber in Deutschland eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Da sie - im Gegensatz zu den US-amerikanischen Beschäftigten - loyal gegenüber ihrem Unternehmen sind, erwarten die deutschen Beschäftigten mehr Anrechte sowie sechs Wochen Erholungsurlaub. Der US-amerikanische homo economicus hingegen, der von hiesigen Neoliberalen immer wieder als das Maß aller Dinge angepriesen wird, ist, sofern er überhaupt Arbeit hat, mehr mit seiner Karriere und Wohlstand beschäftigt, als mit Loyalität zu einem Unternehmen oder zu Freunden. Viele Amerikaner betrachten ihr Unternehmen deshalb nur als Vehikel, durch das sie Macht, Selbstbestätigung und Einkommen erlangen können. Es ist Mittel zum Zweck.

Die höheren Produktionskosten in Deutschland reflektieren in gewisser Weise die deutschen Werte des sozialen Konsenses und der Arbeit in Partnerschaft. Allerdings rechnen sich diese höheren Kosten langfristig: sie helfen nämlich, einen hohen Grad an Moral aufrechtzuerhalten, sie schaffen Loyalität, ein Gefühl der Pflicht und Gehorsam bei den Angestellten und eine hohe Qualität der Arbeit. Aus Sicht der US-amerikanischen Ökonomen hingegen kommt die deutsche Auffassung, Geld mit Beschäftigten zu teilen, bereits "sozialistischem Denken" gleich.

Der deregulierte Markt in den USA hat einen ausgesprochen hohen Preis. Es gibt dort inzwischen keine "bürgerliche Gesellschaft" mehr. Der bereits angesprochene John Gray spricht sogar von einer "zersplitterten" US-Gesellschaft. Eine "ängstliche Mehrheit" sei zwischen einer "hoffnungslosen Unterschicht" und einer alle "staatsbürgerlichen Pflichten leugnenden Oberschicht" eingekeilt. Die "politische Ökonomie des freien Marktes und die moralische Ökonomie der bürgerlichen Zivilisation hätten sich in den USA voneinander gelöst". "Ein wahrscheinlich unumkehrbarer Prozeß", meint Gray. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der das Gesetz mehr oder weniger die einzige gesellschaftliche Institution ist, die noch funktioniert: "Diese Zahlen (der USA, d.V.) zur Inhaftierung, zur Häufigkeit von Gewaltverbrechen und Rechtsstreitigkeiten zeichnen das Bild einer Gesellschaft, in der das Gesetz fast die einzige noch funktionierende gesellschaftliche Institution ist und das Gefängnis eines der wenigen noch intakten Mittel sozialer Kontrolle."

Die zentrale Frage heute in den USA ist, ob sich eine multiethnische Gesellschaft überhaupt noch politisch integrieren und sozial befrieden läßt. Stellvertretend für diese Debatte sei hier nur das Buch "The Disuniting of America" (1992) des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Arthur Schlesinger genannt. Wie Mathiopoulos vor diesem Hintergrund deutschen Politikern Arroganz und Ignoranz ankreiden kann, weil diese sich weigerten, vom "Modell Amerika", "dem Experiment des Fortschritts par excellence", zu lernen, bleibt deren Geheimnis. Was bitte genau kann denn von diesem "Modell" gelernt werden? Heute stehen die USA, um es mit John Gray zu sagen, "für überfüllte Gefängnisse, zerstörte Familien, abgeschottete Wohnviertel für die Eliten". Die USA, so Gray, seien ein Land mit größerer sozialer Zerrissenheit als Argentinien oder Chile".

Es kommt also im Hinblick auf die notwendige Reform des Sozialstaates in Deutschland, die an dieser Stelle keineswegs bestritten werden soll, darauf an, das Maß zu wahren. Und vor allem darauf, die Kausalitäten im Auge zu behalten. Die Rede von der "Krise des Sozialstaates" vernebelt Ursache und Wirkung. Wir erleben heute nicht die "Krise des Sozialstaates", sondern die Krise des parteipolitischen Herrschaftsinstrumentes Sozialstaat. Es sind nämlich die etablierten Parteien CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne, die die unverhältnismäßige Aufblähung des Sozialstaates zu verantworten haben. Es sind die etablierten Parteien, die über Millionen von Zuwanderern das Füllhorn von sozialstaatlichen Leistungen entleert haben, ohne daß diese einen substanziellen Beitrag für das System der deutschen Daseinsvorsorge geleistet hätten. Es sind die Vertreter der etablierten Parteien - und damit auch die der FDP -, die aus dem deutschen Sozialstaat einen todkranken Patienten gemacht haben, dem nun die Neoliberalen einen "schönen Tod" bereiten möchten, damit in Deutschland endlich die freie, meint: totale Marktwirtschaft ausbrechen kann. Deren Therapie muß entschlossener Widerstand entgegengesetzt werden, soll aus Deutschland nicht eine soziale Wüste werden.

 

Michael Wiesberg, Jahrgang 1959, evang. Theologe, war von 1995 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter und ist heute in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig.


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