© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/02 19. Juli 2002

 
Nachdenken über Christa W.
Jörg Magenaus Biographie über eine Schriftstellerin, die eine bessere DDR wollte und von der Vereinigung überfahren wurde
Doris Neujahr

In Christa Wolfs Roman "Der geteilte Himmel" von 1963 gibt es eine Szene, die ein Schlüsselerlebnis der Romanheldin und zugleich eine metaphorische Selbsterklärung der damals 34jährigen Autorin enthält. Die junge Rita Seidel besucht im Sommer 1961, unmittelbar vor dem Mauerbau, ihren nach Westberlin geflüchteten Freund Manfred, der bei seiner Tante, der Schwester seiner gerade verstorbenen Mutter, untergekommen ist. Das Mietshaus und die Wohnung atmen säuerliche Spießigkeit und die Furcht vor dem sozialen Abstieg. Die Tante strickt, mitten im heißen Sommer, an einem schwarzen Trauerschal. "Sie hatte nichts weiter", so der Erzählkommentar, "als die Trauer um die verlorene Schwester, die mußte für lange Zeit reichen."

Dieser deprimierende Eindruck gibt Rita den entscheidenden Anstoß, in die DDR zurückzukehren, wo sie zwar kein bequemes Leben, aber eine unüberbietbare Chance erwartet: "Daß wir aus dem vollen leben, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben." Glücklicherweise ist Jörg Magenau in seiner Christa-Wolf-Biographie - der ersten überhaupt - der Versuchung entgangen, Werk und Lebensweg der Schriftstellerin nur aus der Perspektive ihres ursprünglichen, gründlich widerlegten Lebensideals: der Einheit von privater, künstlerischer und politischer Existenz in einem sozialistischen Staat, zu beurteilen. Der FAZ-Mitarbeiter (und frühere taz-Redakteur) hat Wolfs literarische und publizistische Texte mit der nötigen philologischen Sorgfalt analysiert und sich gründlich in die jeweiligen Zeitumstände vertieft. Die vielen biographischen Details, die Christa Wolf ihm gesprächsweise mitgeteilt hat, ergeben einige neue Aufschlüsse über politische Hintergünde und persönliche Intentionen, ohne das Bild, das man von der Autorin schon hatte, gänzlich umzustoßen. Auf jeden Fall befriedigen sie die voyeuristische Neugierde potentieller Leser.

Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg an der Warthe geboren. Die Eltern waren kleine Gewerbetreibende, der Vater trat 1932 der NSDAP bei. Die elterliche Autorität war nach dem Zweiten Weltkrieg kompromitiert, an ihre Stelle trat die der kommunistischen Gegnerin des Nationalsozialismus. Magenau wahrt Distanz gegenüber Wolfs Selbsterklärungen. Sachlich konstatiert er ihre Neigung, unangenehme Charakterzüge - Autoritätshörigkeit zum Beispiel - als Generationsmerkmale zu pauschalisieren, und sich persönlich zu entlasten. Nach dem Germanistikstudium bei Hans Mayer in Leipzig arbeitete sie beim DDR-Schriftstellerverband, wo sie als linientreue Literaturkritikerin von sich reden machte.

Erstmals ist Wolfs frühe Publizistik so detailliert aufgearbeitet worden. Seit 1959 wurde sie kurzzeitig als IM "Margarete" geführt. Das Mielke-Ministerium brach die Zusammenarbeit wegen ihrer abwiegelnden Zurückhaltung bald wieder ab. Wesentlicher war der schier unglaubliche Aufwand, den die Stasi betrieb, um die nach Anna Seghers bekannteste Schriftstellerin des Landes zu überwachen und zu zermürben. Spätestens seit 1980, als sie den Büchnerpreis erhielt, galt sie als bedeutendste deutschsprachige Gegenwartsautorin und war sogar für den Nobelpreis im Gespräch. Nach der Wende 1990 wurde sie hingegen als "Staatsdichterin" geschmäht und lieferte den Anlaß für den "Literaturstreit", den Magenau zu Recht als "diskursive Enteignung" der DDR-Bürger durch die bundesdeutsche Kultur- und Medienindustrie ansieht.

Das Zentrum ihrer Poetik war nicht, wie damals behauptet, die Entfaltung und Verteidigung eines ideologischen Sündenfalls, sondern die Emanzipation von ihm zugunsten subjektiver Freiheit. Diese Entwicklungslinie läßt sich von "Nachdenken über Christa T." über "Kindheitsmuster", "Kein Ort nirgends", "Sommerstück" (diese beiden Bücher sind wohl ihre besten überhaupt), "Kassandra" und "Medea" verfolgen. Offen bleibt die Frage, in welchem Maße sich Wolfs Popularität tatsächlich literarisch begründen läßt, ob sie nicht genauso - oder noch mehr - in den politischen Konstellationen wurzelt. Über den 1963 erschienenen Romanerstling "Der geteilte Himmel" schreibt Magenau: "An diesem Buch erhitzten sich die Gemüter, im Lob und in der Ablehnung. Mit ihrer Liebesgeschichte aus den Zeiten des Mauerbaus gelang es Christa Wolf, den Konflikt der Epoche massenkompatibel darzustellen und der eingemauerten Bevölkerung das Gefühl zu geben, auf der richtigen Seite zu stehen." Das ist bloß eine Seite der Medaille. Das Buch wäre auch in der DDR niemals zu einem derartigen Ereignis geworden, wenn bessere und anspruchsvollere Romane wie Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" oder Manfred Bielers "Maria Morzek oder Das Kaninchen bin ich" hätten erscheinen dürfen. Es ist unverständlich, daß Magenau in seinem sonst ausgezeichneten Buch Wolfs Verhältnis zu Uwe Johnson, dem sie an versteckten Stellen immer huldigte und der seinerseits das Gefühl hatte, Christa Wolf würde ihm "hinterherschreiben", überhaupt nicht beleuchtet hat.

In den fünfziger Jahren sah Christa Wolf sich als Streiterin einer revolutionären Weltbewegung, in den sechziger Jahren wollte sie immerhin die DDR verbessern, um das sozialistische Zukunftspotential in Freiheit zu setzen. In den siebziger und achtziger Jahren beschwor sie die zwischenmenschlichen Strukturen, die sich unterhalb der staatlichen Ebene gebildet hatten, und nach 1989 definierte sie den Sozialismus nur noch als eine persönliche Haltung. Ihr Werk läßt sich als permanenter Schrumpfungsprozeß ihres Utopievorrats lesen, andererseits zehrte sie von ihm.

Für diejenigen aber, die ihre Utopie nie geteilt hatten, für die die DDR von Anfang an falsch und eine Qual war, hielt ihr Werk kaum Erhellendes bereit, und der Trost, den es spendete, schmeckte bald schal. Daraus erklärt sich die weitverbreitete Aversion gegen einen moralisierenden "Christa-Wolf-Sound". Ein bißchen ist Christa Wolf der alten Westberliner Tante, vor der ihre Romanheldin Rita entsetzt geflüchtet war, tatsächlich ähnlich geworden. 

Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie. Kindler Verlag, Berlin 2002, Abbildungen, 449 Seiten, geb. 24,90 Euro


 
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