© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   30/02 19. Juli 2002


Das schwierige Erbe
Die Erinnerung an den 20. Juli 1944 rührt am nationalen Bewußtsein der Deutschen
Stefan Scheil / Hans-Peter Rissmann

Wenn sich das politische Berlin in die Sommerpause verabschiedet, steht ihm jedes Jahr wieder einer seiner schwierigeren Termine ins Haus. Dann wiederholt sich jener Tag, an dem die übliche schroffe Distanz zu preußischen Traditionen und den deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs trotz mancher Anstrengung nicht aufrecht erhalten werden kann. Es kommt der 20. Juli, der Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler. Das Erbe dieser Tat wiegt schwer, und es wird jedes Jahr etwas sperriger, je weniger sich das Berliner Establishment in die Motive der Attentäter hineinversetzen kann.

Seit der Vorkriegszeit war der Umsturz der nationalsozialistischen Regierung vorbereitet worden. Viele politische Zukunftsplanungen waren damit verbunden gewesen, und nicht wenige davon würden heute ohne Umstände als nationalistisch und extremistisch eingestuft werden, würde sie jemand als politisches Programm proklamieren. Das meiste wurde durch den Krieg hinfällig und zusehends stand für die klarsehenden unter den Attentätern fest, daß praktische Ziele nicht mehr im Vordergrund der eigenen Absichten stehen konnten. Am Ende blieben Motive übrig, die man typisch preußisch nennen könnte. Das Attentat fand eher trotz der drohenden deutschen Katastrophe statt als wegen ihr und wurde gewissermaßen zum letzten Ritt für den König von Preußen. Wegen der Ehre Deutschlands müsse der Putschversuch gemacht werden, ob er aussichtsreich sei oder nicht, schrieb Henning von Tresckow. Er sterbe für das Heilige Deutschland, rief Stauffenberg vor dem Erschießungskommando.

Ehre und Heiligkeit, das sind Begriffe, die in der Bundesrepublik des Jahres 2002 wenig Konjunktur haben, schon gar nicht in Zusammenhang mit Deutschland. Kaum vorstellbar, daß Mitglieder der Bundesregierung diese Ausdrücke freiwillig in Bezug auf die Republik verwenden könnten. Daher wird in den Festreden gerne ausgeblendet, in welchem Umfang die Attentäter nicht nur für Werte wie den Rechtsstaat eintraten, sondern sich auf ganz elementare Weise mit Deutschland identifizierten. Sie waren sich bewußt, daß die Nation als jene Schicksalsgemeinschaft existiert, deren Vorhandensein Martin Walser dem Bundeskanzler erst jüngst im Gespräch am 8. Mai vergeblich nahezubringen versuchte.

Gerhard Schröder war nur zu dem Eingeständnis zu bewegen, er feuere die Nationalmannschaft nicht wegen unserer tollen Verfassung an. Was in seinem Bewußtsein für diesen Fall die Stelle des vielhundert Mal geänderten Grundgesetzes einnimmt, darüber schwieg er sich aus. So tritt die deutsche Politikgemeinde dem Erbe des 20. Juli insgesamt nicht ohne Scheu entgegen und vorzugsweise nicht allein. Man lädt illustre Gäste ein, wie um sich der Legitimität einer solchen Feier zu versichern. Letztes Jahr hielt mit Paul Spiegel der Vorsitzende des Zentralrats der Juden eine Rede im Bendlerblock, dieses Jahr wird es der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski sein, der zur Feier in Berlin etwas sagt.

Deutschlands politische Klasse sucht Zustimmung von innen und außen. Sie hätte es bei dieser Suche leichter, wenn sie die Nation als Realität und Chance begriffe, nicht nur als Rätsel und Last. Solche Definitionsschwierigkeiten sind bezeichnenderweise aber auch der früheren Schule der Nation nicht fremd. Wenn die Bundeswehr zum Gelöbnis in den Bendlerblock einlädt, so tut sie dies mit einem wunderbar widersprüchlichen Ausdruck wegen der Feier einer "neuen Tradition" deutscher Streitkräfte.

Schon der Begriff zeigt, daß man sich bemüht, schwierige Teile der deutschen Geschichte auszublenden. Das gilt vor allem für den Umgang mit den Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Die historischen Bauchschmerzen der deutschen Nachkriegsarmee und deren politisch Verantwortlichen schlagen sich in dem Satz im Traditionserlaß der Bundeswehr nieder, in dem gesagt wird, die "Wehrmacht als Institution" könne für die Bundeswehr keine Tradition begründen, trotz Respekts für diejenigen, die ehrenvoll gekämpft hätten. Zu den Soldaten der Wehrmacht, und zwar zu den ehrenwertesten, zählen die Männer des 20. Juli 1944. Den 20. Juli in Ehren zu halten, bedeutet nicht die Wehrmacht zu verdammen, sondern ihre vorbildlichsten Soldaten und ihren Begriff von Ehre und Verantwortung in Erinnerung zu bewahren.

Die Widerstandskämpfer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg - sie haben für Deutschland als Soldaten ihr Leben eingesetzt. Stauffenbergs Ruf vor seinem Erschießungskommando ist Wiederhall eines patriotischen Ethos, den ein Vertreter der politischen Klasse des heutigen Deutschland frösteln läßt. Handeln wie Nichthandeln bedeutete am 20. Juli den Tod für jeweils viele andere. Es hätte keinen Putsch gegen Adolf Hitler gegeben ohne die doppelte Hoffnung, nicht nur etwas für das Recht, sondern auch etwas für Deutschland zu tun.

Hinter dem 20. Juli 1944 stand eine Form des Patriotismus, die uns heute fast restlos abhanden gekommen ist. Ein kämpferischer Wille zur Nation, wie er sich noch in den Reden und der Haltung Kurt Schumachers, des ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD, niedergeschlagen hatte. So sehr jedoch inzwischen Kurt Schumacher in der SPD dem Vergessen anheim fällt, so sehr will man das nationale Ethos Stauffenbergs am liebsten aus dem Gedächtnis verschwinden lassen.

Doch je größer die zeitliche Distanz zum Zweiten Weltkrieg wächst, desto größer scheint die Figur dieses jungen, mutigen und entschlossenen Offiziers alle Gestalten dieser Zeit zu überragen. Daß es in einer in toto als "verbrecherisch" verleumdeten Armee eine großräumige Verschwörung von verantwortungsbewußten nationalkonservativen Offizieren in dreistelliger Zahl gegeben hat, die planmäßig auf einen Sturz des Hitler-Regimes hingearbeitet haben, um eine verbrecherische Politik zu stoppen, aber nicht Deutschland den Alliierten auszuliefern, sondern vor dem Untergang zu retten, das paßt einfach nicht ins Bild des postnationalen Deutschland im Jahre 2002.

Stauffenberg und der 20. Juli 1944 gehören ins Zentrum der deutschen Erinnerung, wenn wir mehr von der eigenen Existenz begreifen wollen in einer Welt, in der ein Ende der Nationen nirgendwo in Sicht ist. In dieser Welt wird auch die Bundeswehr als Repräsentant Deutschlands in Zukunft wieder auf eine Art dem Soldatenberuf nachgehen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien. Es wird offenbar wieder gekämpft werden müssen, verbunden mit all den Fragwürdigkeiten, denen jeder Schuß auf einen anderen Menschen zwangsläufig ausgesetzt ist.

Doch wofür läßt ein Soldat sein Leben und wofür nicht? Hierfür könnte der 20. Juli 1944 die Richtung weisen.


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