© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/02 12. Juli 2002

 
Wiener Historikerstreit entfacht
Österreich: Für den FPÖ-Politiker Ewald Stadler wurde sein Land erst nach Abzug der alliierten Besatzungstruppen wirklich befreit
Carl Gustaf Ströhm

Nun hat auch Österreich seinen "Fall Möllemann" - allerdings ist dieser etwas anders gelagert, wie ja überhaupt in der kleinen Alpenrepublik vieles anders erscheint als beim nördlichen großen deutschen "Bruder".

Erst nachträglich wurde eine Rede bekannt, die der FPÖ-Politiker Ewald Stadler am 21. Juni auf einer Sonnwendfeier in Seebarn unweit von Wien gehalten hat. Der 41jährige, der seit Juli 2001 einer von drei "Volksanwälten" ist, die Beschwerden der Bürger gegen die Verwaltung zu behandeln haben, hatte am Johannisfeuer erklärt, den Österreichern sei eine "Befreiungsideologie" übergestülpt worden, die mit den historischen Tatsachen im Widerspruch stehe. Österreich habe seine "wirkliche Freiheit" nicht 1945 mit dem Ende des Nazi-Regimes, sondern erst mit dem Abzug der fremden Besatzungstruppen im Jahre 1955 erreicht. Außerdem sei Österreich 1994 von seiner Selbstständigkeit "befreit" worden, als das Land sich für den Eintritt in die EU entschied.

Diese Äußerungen genügten, um einen Sturm im "antifaschistischen" Wasserglas gegen den - laut Gesetz bis 2007 unabsetzbaren - Volksanwalt zu entfesseln. Die SPÖ-Bundesgeschäftsführerin Andrea Kuntzl sprach von einer "skandalösen Entgleisung", die stellvertretende Klubobfrau der Grünen im österreichischen Parlament, Madeleine Petrovic, forderte gar seinen Rücktritt.

Aber auch die ÖVP fühlte sich bemüßigt, sich von dem Spitzenpolitiker ihres freiheitlichen Koalitionspartners laut zu distanzieren. Der ÖVP-Vize und Landwirtschaftsminister Wilhelm Molterer beschuldigte Stadler, der von 1991 bis 1994 FPÖ-Klubobmann im Landtag von Vorarlberg und danach Nationalratsabgeordneter war, bevor er 1999 von Jörg Haider in die Landesregierung von Niederösterreich weggelobt wurde, den Nationalsozialismus zu verharmlosen. ÖVP-Klubobmann Andreas Khol meinte, jede Aufrechnung kommunistischer und nationalsozialistischer Verbrechen führe "zur Verharmlosung des NS-Verbrecherstaates".

Bundespräsident Thomas Klestil erklärte am Montag, daß Österreich 1945 "von einem totalitären System befreit worden ist und eine demokratische Republik sowie ein Rechtsstaat wurde. Daran ändert auch die Tatsache der zehnjährigen Besatzung nichts." Jede Aussage, "die eine Relativierung des Nazi-Terrors bedeutet, ist schärfstens abzulehnen", so der einstmals als ÖVP-nah geltende parteilose Karrierediplomat.

Stadler, der wegen seiner deutlichen Sprache und seiner manchmal undiplomatischen Art auch in seiner eigenen Partei nicht nur Freunde besitzt, hat aber in keiner Weise das NS-Regime verharmlost oder gar gerechtfertigt. Er hat nur ausgesprochen, was bis vor wenigen Jahren in Österreich eigentlich von niemand (außer der KPÖ) bezweifelt wurde: daß nämlich der Einmarsch der Sowjetarmee in Ost-Österreich und Wien 1945 von der Bevölkerung nicht als Befreiung, sondern als Ablösung der einen Tyrannei durch eine andere betrachtet und erlebt wurde.

Stadler machte dabei allerdings eine Differenzierung: Für die Menschen seien "Austrofaschismus" (also das Regime Dollfuß - Schuschnigg vor 1938) und Nationalsozialismus "hausgemachte Angelegenheiten" gewesen, aber "daß russische Besatzungsmächte hier gewütet haben" sei für viele "fast einem Kulturschock" gleichgekommen. Er, Stadler, wollte nicht bewerten, was schlimmer war, sagte der Volksanwalt später in einem ORF-Fernsehinterview. "Für viele waren die Nazis schlimmer, für andere das Sowjetregime".

Aus der Sicht der Opfer sei der braune Terror genauso widerlich und abzulehnen wie der rote, fügte Stadler hinzu. Jeder Terror sei menschenfeindlich. Zu der gegen ihn losgetretenen Medienkampagne meinte Stadler, es handle sich um eine "Masche des Neo-Jakobismus". Von einem "Meinungsdirektorium" werde eine Meinung vorgegeben und wer sich nicht daran halte, der komme dann aufs "Medien-Schafott". Ein solches Schafott hatte die linke Wiener Boulevardzeitung Kurier mit der Überschrift aufgebaut: "Wer befreit Österreich von Ewald Stadler?" Diese Frage könnte als makabre Aufforderung mißverstanden werden - zumal Stadler hier als "offener politischer Hygienefall" bezeichnet wird, womit es durchaus nahe läge, zur Wiederherstellung der Hygiene ein Desinfektionsmittel einzusetzen.

Der einzige namhafte Politiker, der Stadler energisch vor Angriffen in Schutz nahm, war der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider. Er sei, obwohl er eine "andere Wortwahl" getroffen hätte, nicht der Meinung, daß Stadler zurücktreten solle. Der Ex-FPÖ-Chef wörtlich: "Tatsache ist, daß die Freiheit nach 1945 so ausgesehen hat, daß wir wieder ein Stück Unfreiheit hatten." Andere führende FPÖ-Politiker hatten sich ablehnend, wie Generalsekretär Peter Sichrovsky, oder ambivalent geäußert, wie der Klubobmann im Parlament, Peter Westenthaler. Letzterer meinte letzte Woche noch, die FPÖ sei "kein Geschichtsverein". Erst vergangenen Montag, nach einem "erklärenden" Profil-Interview Stadlers, versicherte der Fraktionschef, daß sein freiheitlicher Parteifreund ein "lupenreiner Demokrat" sei.

Die Staatsanwaltschaft Wien hat sich inzwischen zu einer "Prüfung" der "Causa Stadler" entschlossen. Am Montag sei in St. Pölten eine Anzeige wegen "NS-Wiederbetätigung" gegen Stadler eingegangen, doch auch dessen ungeachtet wäre aber die Staatsanwaltschaft "von sich aus tätig geworden". Nun sondiere man das "Dokumentationsmaterial" gegen den Volksanwalt.

Stadler kann allerdings einen prominenten Kronzeugen für sich ins Feld führen: den 1965 verstorbenen ersten Bundeskanzler der Zweiten Republik, ÖVP-Mitbegründer und Häftling der KZ Dachau und Mauthausen, Leopold Figl. Dieser hatte nach Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages 1955 als Außenminister vom Balkon des Wiener Schlosses Belvedere den zu Zehntausenden wartenden Wienern die in die Schulbücher eingegangenen Worte zugerufen: "Österreich ist frei!" Offenbar empfand also auch der unzweifelhafte Anti-Nazi Figl erst den Abzug der Besatzungstruppen - und hier vor allem der Roten Armee - als Augenblick der wirklichen Befreiung.

Vorher hatte das östliche Österreich mit Wien in einem Zustand ständiger Angst und Ungewißheit gelebt. Interessant ist, daß sich im bis 1955 viergeteilten "roten Wien" vor allem die Sozialisten der sowjetischen Okkupation widersetzten. Im SPÖ-Organ Arbeiterzeitung wurde jeder Übergriff und jede Verschleppungsaktion der sowjetischen Geheimpolizei und Militärverwaltung genau registriert. Am Schicksal mehrerer tausend Österreicher, die zum Teil noch lange nach Kriegsende in den sowjetischen Gulag deportiert wurden, konnte auch das nichts ändern. Ab 1945 fanden zwar regelmäßig demokratische Wahlen statt, aber das letzte Wort hatte nicht die österreichische Regierung, sondern die Hochkommissare der vier Alliierten.

Jene österreichische Politikergeneration, die nach 1945 das Land aufbaute, hat die Sowjets nicht als Befreier, sondern als tägliche Bedrohung empfunden. Von Figl weiß man, daß er, wenn er in die sowjetische Kommandantur zitiert wurde, seiner Frau sagte, sie solle die Amerikaner verständigen, falls er bis zu einer bestimmten Zeit nicht zurück sei. Heute scheint bereits vergessen, daß der berüchtigte sowjetische KGB-General Bjelkin bis 1955 von seinem Hauptquartier in Baden bei Wien die Operationen der sowjetischen Geheimpolizei in ganz Mitteleuropa leitete. Daß beim sowjetischen Einmarsch 1945 Zehntausende von österreichischen Frauen vergewaltigt wurden und die Sowjettruppen stahlen, plünderten und oft auch Zivilisten erschossen, gilt bereits als Selbstverständlichkeit.

Bedrückend bleibt die Tatsache, daß das Thema "Befreiung" nun auch in Österreich zur Keule im Kampf gegen nicht genehme Meinungen verwendet wird, wenn sogar in der Beurteilung historischer Vorgänge derartige Diskussionsverbote aufgestellt werden, bleibt die Frage, was von der vielzitierten "Gedankenfreiheit" noch übrig bleibt. Das alles nimmt noch absurdere Formen an, wenn bereits die Tatsache einer "Sonnwendfeier", auf der Stadler seine ketzerischen Thesen aufstellte, als Beweis für "Faschismus" herhalten muß.

Demnach wären Skandinavien und das Baltikum, wo in fast jedem Dorf Sonnwendfeiern veranstaltet werden - allesamt "faschistische Regionen"?


 
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