© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/02 12. Juli 2002

 
Kolumne
Soziale Krise
Klaus Hornung

Die Maßlosen, die Arglosen und die Kopflosen" hieß der Titel eines Buches, das der Heidelberger Anglistik-Ordinarius Kurt Otten 1993 als Bilanz des Weges "von der Bildungsreform zur Bildungskatastrophe" erscheinen ließ. In der derzeitigen Debatte um unsere Schulen nach Pisa und Erfurt möchte man es allen Mundwerksburschen als Pflichtlektüre empfehlen. Otten setzte hier die richtigen Maßstäbe zum Verständnis des bildungspolitischen Desasters von heute. Er hatte in den siebziger Jahren im berüchtigten Marburg die 68er-Bewegung und ihre gerade auch bildungspolitischen Folgen hautnah kennengelernt. Damals waren es ja nicht zuletzt der SPD nahestehende Hochschullehrer wie Otten, Hermann Lübbe, Richard Löwenthal, Thomas Nipperdey oder Ernst-Wolfgang Böckenförde, die im Bund "Freiheit der Wissenschaft" mithalfen, den ersten bildungspolitischen Unfug im SPD-geführten Hessen (Kultusminister Ludwig von Friedeburg und Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher) zu stoppen.

Ob sich heute in der SPD noch jemand an jene Avantgarde des gesunden Menschenverstandes in ihren Reihen erinnert? Anstatt den bildungspolitischen Kurs seit den sechziger Jahren endlich zu korrigieren, preist Edelgard Bulmahn noch immer die alten technokratischen, etatistischen, versorgungsstaatlichen und bevormundenden Ladenhüter an: mehr Geld, Ganztagsschule, Gesamtschule, Pflichtkindergarten und sonstige Nürnberger Trichter unserer Zeit, anstatt endlich vor ganzen ruinierten Generationen Abbitte zu leisten.

Arnold Gehlen hat einst in "Moral und Hypermoral" (1969) vor dem geschichtlich-kulturellen "Abschnallen" der Generation nach dem "Wirtschaftswunder" gewarnt. Das mindeste, was heute nottäte, wäre, den heutigen Offenbarungseid in Erziehung, Bildung und Schule als Spiegel tiefgreifender geistiger und kultureller Fehlentwicklungen in Deutschland seit 30 Jahren zu erkennen: der Vergötzung und Verwöhnung des einzelnen im Zeichen einer allen anthropologischen und pädagogischen Einsichten widersprechenden "Selbstverwirklichung", des systematischen Abbaus des Leistungswillens und der Bereitschaft zur Anstrengung, der Absage an die haltenden und "bildenden" Kräfte der kollektiven Identität, der Geschichte und Tradition. Pisa und Erfurt haben nicht zuletzt zur Entdeckung der "sozialen Umweltkrise" unserer Zeit geführt, die unser Schul- und Erziehungswesen nun offenbart. Die Verantwortlichen sollten sich nicht länger vor der Offenlegung der Ursachen dieser Misere drücken.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung ist Politikwissenschaftler und Präsident des Studienzentrums Weikersheim.


 
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