© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Das Sein hierarchisch gedacht
Eric Voegelin, einer der Väter der Totalitarismustheorie: Früh auf Distanz zu Carl Schmitt und zu Hans Kelsen
Eberhard Rimbach

Rätselhaft ist, warum das Privatleben von Politikern, Wissenschaftlern und Dichtern ihre Zeitgenossen mindestens ebenso sehr beschäftigt wie jene Taten, Erfindungen oder Phantasien, mit denen sie ursprünglich öffentliches Interesse erregt haben. Was macht den Blick durchs Schlüsselloch hier so reizvoll? Signalisiert die Biographie mitsamt ihrer Schwundform, der home story der Regenbogenpresse, nur den Egalitarismus des Massenzeitalters, der sich seine Helden auf das Alltagsmaß Marke "Menschen-wie-du-und-ich" reduziert? Was bedeutet es dann, wenn einer der unerbittlichsten Kritiker der durch Verabsolutierung des Materiellen ausgezeichneten Moderne sich als hartnäckiger Börsenzocker entpuppt?

Die Rede ist von Eric Voegelin (1901-1985), einen der profiliertesten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der den Tag damit begann, seinem Merrill Lynch-Broker Kauf- und Verkaufsorders zu erteilen und der seinem Assistenten mit der leicht zynischen Reflexion in Erinnerung blieb, ob es nach dem Absturz einer Lockheed-Maschine nicht clever sei, dieses Unglück als Einstiegschance in die darob arg gebeutelte Aktie des Flugzeugbauers zu ergreifen. Ein Geschichtsphilosoph wie Voegelin, der den neuzeitlichen Verlust der religiösen Dimension zum Lebensthema macht und der zugleich wie ein ordinärer Couponschneider agiert?

Ein Widerspruch, der kaum aufzulösen ist. Er muß sich allerdings nicht darin erschöpfen, egalisierende Freude an menschlicher Insuffizienz zu vermitteln. Er kann auch darüber hinaus neugierig machen auf das "Denkwerk" einer so kontrastsreichen Privatexistenz. Genau das gelingt dem Erlanger Politikwissenschaftler Tilo Schabert, der aus eigenem Erleben aus der "Werkstatt" des Gelehrten Voegelin berichtet. Schaberts Erinnerungen an zwei Forschungsjahre im kalifornischen Stanford, wo er Anfang der siebziger Jahre seinem wieder in die USA zurückgekehrten Münchner Lehrer fast täglich begegnet, wirken daher in dem Voegelin-Heft der Zeitschrift für Politik (2/02) als idealer Appetitanreger. Von Schaberts Schilderungen, die uns den Tagesablauf des "Geistesfürsten" zwischen Aktienhandel, Telefonaten, reichlichem Mittagsschlaf, Textproduktion und Bettlektüre (Kriminalromane!) näherbringen, führt ein gerader Weg zu Harald Bergbauers "Bausteine der Voegelin-Forschung", die am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München ihren Mittelpunkt hat. Dort, gestützt auf das Voegelin-Archiv, bereitet Peter J. Opitz, einer der ältesten und treuesten Schüler des verstorbenen Meisters, die zehnbändige deutsche Ausgabe von dessen magnum opus "Order and History" vor, dort erscheinen auch seit 1996 die "Occasional Papers" (OP), deren Inhalt Bergbauer, der selbst mit einer instruktiven Monographie über Voegelins Modernekritik (Würzburg 2000) auf den Plan getreten ist, kurz referiert. In den OP werden bislang unveröffentliche Voegelin-Texte aus dem Nachlaß zugänglich gemacht. Sie dienen als internationales Diskussionsforum über das Werk eines Mannes, der mit seiner schmalen Arbeit über "Die Politischen Religionen" (Wien 1938) als einer der Begründer der Totalitarismustheorie gelten kann.

Mit dem geistigen Umfeld dieses Frühwerks macht schließlich - und hier verläßt dann der Leser spätestens seine Kammerdienerperspektive - der erfreulich luzide Aufsatz des in Lübeck an der Fachschule des Bundes für öffentliche Verwaltung lehrenden Politologen Robert van Ooyen vertraut. Van Ooyen interpretiert Voegelins totalitarismuskritische Anfänge als Kritik einerseits am Rechtspositivismus seines Wiener Doktorvaters Hans Kelsen, andererseits an der "politischen Theologie" von dessen Widerpart Carl Schmitt. Ungeachtet kaum unterdrückter Anti-Schmitt-Affekte, gelangt van Ooyen zu einer für seine Zwecke leidlich stringenten These: Schmitts Substanzialisierung des Staates und sein nach 1933 zur NS-Rassenideologie offener Volksbegriff sei vormoderner Fixierung auf eine das Individuum aufhebende politische Einheit geschuldet, die schließlich in der "Hypostasierung" konkreter Gemeinschaft münde, wie sie im Nationalsozialismus dann in der "Selbstvergottung" des deutschen Volkes oder der germanischen Rasse Wirklichkeit geworden sei.

Aber auch an Kelsens "Reiner Rechtslehre" entdeckte Voegelin eine totalitäre Kehrseite: Kelsens "de-ontologisierendes" Diktum, daß es ein "Staatsvolk" als "wesensmäßige" politische Einheit nur in der Phantasie der von Hegel beeindruckten deutschen Staatstheorie gebe, und die Rechtsordnung nicht mehr sei als die Summe der Gesetze, "die konkrete Individuen zu einer bestimmten Zeit 'machen'", blende in ihrer Beschränkung auf Fragen der "Rechts- und Machtorganisation" die religiöse Dimension menschlicher Existenz soweit aus, daß sie der schrankenlosen Selbstermächtigung des Menschen den Weg bereite. Schmitts Ideal des homogenen Volkes und Kelsens Rechtslehre, die in der von Horkheimer/Adorno für Auschwitz mitverantwortlich gemachten rationalistischen Tradition positivistisch-aufklärerischer Ideologie stehe, bildeten die zwei Seiten der einen Medaille des neuzeitlichen, irdische Ersatzgötter kreierenden "Immanentismus", signalisierten für Voegelin gleichermaßen einen "Abfall von Gott".

Was der oft scharf polemisierende Modernekritiker Voegelin in seinem Rückgriff auf vorkantische Naturrechtsideen gegen die Ersatzgötter der politischen Religionen des Totalitarismus als Vademecum anzubieten hat, wird freilich in diesem Kontext leider sowenig thematisiert wie im ersten Teil der Voegelin-Hommage der Zeitschrift für Politik (Jahrgang 2001). Dabei haben Kritiker schon vor mehr als zehn Jahren, als Voegelins deutsche Widerentdeckung in zarten Umrissen erkennbar war, diese fast naive Naturrechtsfixierung als empfindlichste Schwachstelle seines Denkgebäudes erkannt. Voegelin beziehe sich fortwährend auf "Natur" als Chiffre eines geordneten Kosmos und einer göttlichen Schöpfungsordnung, als habe er das Jahrhundert der Aufklärung aus seinem Geschichtskalender einfach herausgerissen.

Von einer "Erkenntnis" der wahren Ordnung des Seins" und der Möglichkeit einer vernünftig geleiteten Selbsteingliederung in diese Ordnung habe sich der neuzeitliche, in die "Autonomie" entlassene Mensch spätestens mit Hilfe des Königsberger "Alleszermalmers" Kant so weit entfernt, daß ein Zurück zu Voegelins antikisch-christlich gedachten "Hierarchien des Seins" nicht mehr vorstellbar sei (so etwa Hans-Christof Kraus über die "theologischen Spekulationen als politische Philosophie" bei Voegelin, in: Criticón 120, 1990). Ob es daher für sein Weiterwirken im 21. Jahrhundert reicht, zwar ein antiquiert traditioneller und damit obsoleter Ontologe, trotzdem aber ein anregender "religiöser Denker in irreligiöser Zeit" gewesen zu sein, der die Defizite einer sich selbst überschätzenden Moderne offengelegt habe (Hans-Christoph Kraus), dürfte zu den spannendsten Fragen gehören, denen sich die Voegelin-Forschung in Zukunft stellen muß.

 

Fototext: Sowjetisches Propagandaplakat von Alexei Kokorekin (1942): "Folgt dem Beispiel dieses Arbeiters, produziert mehr für die Front!"

Eric-Voegelin-Archiv, Ludwig-Maximilians Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Oettingenstr. 67, 80538 München


 
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