© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Eine sensationelle Entdeckung
Vertreibung: Die polnischen Bierut-Dekrete sind schon vor 1990 abgeschafft worden
Alexander Barti

Nachdem in jüngster Zeit die Diskussion um die tschechoslowakischen Vertreibungsdekrete, die sogenannten Benes-Dekrete, von allen Seiten mit Vehemenz geführt wurde, war es nicht verwunderlich, daß eines Tages auch die gesetzliche Grundlage der polnischen Vertreibung der Deutschen ins Blickfeld kommen würde. Daß die polnischen Vertreibungsdekrete, benannt nach dem "polnischen Stalin" Boleslaw Bierut, eine im Vergleich zu den Benes-Dekreten untergeordnete Rolle spielten, hängt vielleicht damit zusammen, daß es in Polen keine "zentrale Vertreibungsgesetzgebung" gab, wie der Warschauer Historiker Wlodzimierz Borodziej der FAZ erklärte. Borodziej konnte am 26. und 28. Juni in der FAZ mit der Sensation aufwarten, daß die Bierut-Dekrete schon lange nicht mehr gültig seien; eine intensive Recherche in polnischen Archiven, zusammen mit Hans Lemberg, habe dieses Ergebnis zutage gebracht.

Im wesentlichen handelt es sich bei den Bierut-Dekreten um das "Gesetz über den Ausschluß feindlicher Elemente aus der polnischen Gesellschaft" vom 6. Mai 1945 sowie um das "Dekret über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Verleugnung der polnischen Nation während der Kriegszeit in den Jahren von 1939 bis 1945" vom 28. Juni 1946. Das "Verleugnungs"-Dekret richtete sich gegen die Polen, die die deutschen Volkslisten mit der Hoffnung unterschrieben hatten, von den Nationalsozialisten für "eindeutschungsfähig" gehalten zu werden. Ein weiterer wichtiger Rechtsakt, der das von den vertriebenen Deutschen zurückgelassene Vermögen regelte, wurde am 6. Mai 1945 erlassen ("Gesetz über das verlassene und aufgegebene Vermögen"). Wie Borodziej ermitteln konnte, sind alle drei Rechtsakte inzwischen nicht mehr wirksam, da sie von anderen Rechtsakten abgelöst wurden. Am 30. Dezember wurde ein Amnestiegesetz für die "Verräter am polnischen Volkstum" erlassen, das am 19. Januar 1951 durch das Staatsbürgerschaftsgesetz ergänzt wurde. Das Vermögensgesetz wurde am 29. April 1985 durch ein "Gesetz über Raumwirtschaft und die Enteignung von Grund und Boden" ersetzt; dabei stand eine Neuordnung des Vermögensrechts im Vordergrund, die von den damaligen Funktionären abgenickt wurde, ohne daß sie sich der Tragweite ihres Handelns bewußt gewesen seien. Heute ist nur noch das "Gesetz betreffend die Übernahme der Grundzweige der nationalen Wirtschaft in das Eigentum des Staates", auch bekannt als "Nationalisierungsgesetz", vom 3. Januar 1946 rechtsgültig.

Offizielle Stellen in Polen halten sich mit Kommentaren über den Archiv-Fund zurück - dementiert wurde aber noch nicht. 


 
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