© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Weltgeist und Freund der Deutschen
Victor Hugo: Nicht nur sein Essay "Der Rhein. Briefe an einen Freund" (1842) zeugen von einem feinsinnigen Literaten
Charles Brant

In Frankreich ist Victor Hugo über lebensgroß. Die Würdigungen zu seinem 200. Geburtstag bejubeln ihn als Weltgeist. Seltsam nur, daß sie verschweigen, wie leidenschaftlich er sich für Deutschland und vor allem für den Rhein interessierte.

Die Franzosen lieben es, große Männer zu ehren. Die verschiedensten Koryphäen lassen sich dem Zeitgeschmack entsprechend herrichten - nicht anders wurde es schließlich auch im Kommunismus gehandhabt. In der Tat erweist sich Hugo (1802-1885) als dankbares Opfer solch ideologischer Kosmetik. Als Dichter, Romanautor, Tagebuchschreiber, Zeichner und Verfasser von Pamphleten hatte er zu allem und jedem eine Meinung: zu Karl dem Großen, Barbarossa und Napoleon, der Grande Nation und den Vereinigten Staaten von Europa. Lionel Jospin huldigt Hugo, dem Fortschrittsdenker par excellence. Max Gallo und Jean-François Kahn widmeten ihm biographische Werke, die sich wie Hagiographien lesen.

Hugo wurde am 26. Februar 1802 in Besançon geboren - ein Zufall, der sich der Tatsache verdankte, daß sein Vater dort stationiert war. Seine Eltern waren zwei entgegengesetzte Pole, die die wechselhafte Geometrie seiner späteren Überzeugungen vorstrukturierten. Der Vater, Sohn eines Tischlers, General Napoleons und ehemaliger Soldat der Republik, stammte aus einer lothringischen Bauernfamilie und hatte seinen Vornamen Joseph Léopold Sigisbert gegen den "revolutionären" Namen Brutus eingetauscht. Die Mutter, Sophie François Trébuchet aus Nantes, die er während des Aufstands in der Provinz Vendée kennenlernte, hatte sich zur Royalistin gemausert.

Der Mann, den die veröffentlichte Meinung heute als Vater der Menschenrechte und Fürsprecher des allgemeinen Wahlrechts feiert, war in seiner Jugend - und weit darüber hinaus - ein flammender Royalist. Er verehrte Chateaubriand, wurde mit 42 Jahren in die Académie Française berufen und mit 43 Jahren geadelt. Bis zur Revolution von 1848 galt er als Vertrauter Louis-Philippes und Freund des Königshauses. Danach saß er als bonapartistischer Abgeordneter im Pariser Parlament. Gegen den Staatsstreich des Präsidenten Louis-Napoléon Bonaparte, der sich 1852 als Napoléon II. zum Kaiser ausrufen ließ, empörte er sich und zog das Exil einer Begnadigung durch den Herrscher, der das Motto "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" von allen öffentlichen Gebäuden entfernen ließ, vor. 1870 kehrte er nach Frankreich zurück, 1871 wurde er Parlamentsabgeordneter, 1876 Senator der Republik.

Hugo gehörte zu den ersten Schriftstellern, die nur vom Schreiben leben konnten. Mit mächtigem Talent entwarf und bevölkerte er die Bühne seines kolossalen Werkes. Mit mächtigem Atem blies er sich selber zum Genie auf. Weit davon entfernt, den übermäßigen Gebrauch der ersten Person Singular zu scheuen, erhob er die Feder gegen jedes Unrecht, das seiner Aufmerksamkeit wert und geeignet war, den eigenen Ruhm zu befördern. Er applaudierte Serbiens Bemühen, das türkische Joch abzuschütteln, ereiferte sich gegen die Todesstrafe, beweinte das Los der Armen und Ausgebeuteten. Unter dem Volk erfreute er sich einer solchen Beliebtheit, daß die Republik ihn am Ende seines langen Lebens am 1. Juni 1885 mit staatlichen Ehren bestattete. Seine Leiche wurde unter dem Triumphbogen aufgebahrt und schließlich ins Pantheon überführt. In gewisser Weise inaugurierte Hugo die Figur des Star-Intellektuellen, die inzwischen ihre Nische im Medienzirkus gefunden hat.

Im heutigen Frankreich gilt Hugo als Gigant, der auf einer Stufe mit Beethoven steht. Was weiß man über ihn? Nun, daß sein Konterfei eine Banknote zierte, die unlängst der Währungsunion zum Opfer gefallen ist. Daß er der Autor von "Les Misérables" und dem "Glöckner von Notre-Dame" ist, weiß man, weil Hollywood sich dieser Werke angenommen hat. Man weiß, daß er lange Jahre im Exil verbrachte, nachdem er es sich mit Louis-Napoléon Bonaparte verdorben hatte: in Brüssel und auf den Kanalinseln Jersey und Guernsey, wo er seine Frau betrog. Man kennt ein paar seiner gelehrten Traktate, ein paar Zeilen der Gedichte, die er für seinen Sohn schrieb, ein paar Auszüge aus den "Travailleurs de la Mer". Vergessen hat man seinen "Cromwell", seinen "Han d'Islande", seinen "Hernani", seinen "Ruy Blas" und die "Burgraves", deren glorreicher Held Barbarossa ist.

Hugos Verehrer machen viel Wind um seine politischen Leidenschaften. Mit keinem Wort erwähnen sie jedoch die Passion, die ihr großes Vorbild zeit seines Lebens für den Rhein verspürte, "diesen Fluß, der auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen hat". Seine erste Rheinfahrt unternahm er 1839 von Straßburg aus. In den Fußstapfen des jungen Goethe folgend, erklimmt er den Turm des Münsters und betrachtet aus der Vogelperspektive die "alte deutsche Stadt", die ihn mit ihren "zackigen Giebeln" und ihren Dachfenstern "genauso malerisch wie jede flämische Stadt" dünkt. Statt von Kehl aus nach Köln zu reisen, wie er ursprünglich vorhatte, bricht Hugo in die andere Richtung auf und besucht Freiburg im Breisgau, Basel und Bern. Im nächsten Jahr kehrt er zurück, um sich Speyer - "die Königin der Kaiserstädte", wo er die Verwüstungen beklagt, die die Franzosen angerichtet haben -, Heidelberg, Mainz und Koblenz anzusehen. In Bacharach macht er Station, um den Mäuseturm zu zeichnen. Aachen ist ihm erst recht eine Reise wert: Vor dem weißen Marmor des Grabsteins und der Statue Karls des Großen, Krönungsstätte von 36 Kaisern, darunter auch Barbarossa, träumt er von einer Wiederauferstehung des karolingischen Reiches.

Hugo sprach kein Deutsch, aber er war stolz auf seine germanische Abstammung. Die rheinische Landschaft mit ihrem Nebel, ihren Gespenstern, ihren Sagen empfand er als Heimat seiner romantischen Seele. Er sucht und findet Inspiration in den Ruinen des Feudalismus, bei Rembrandt und in Dürers "Melancholie". Er schimpft auf die Touristen, folgt dem Flußlauf zu Fuß oder an Bord eines Dampfschiffes. Er macht eifrig Notizen, um seine Reiseerlebnisse zu einem Buch zu verarbeiten. Die Zeit scheint reif, zumal das Rhein-Problem die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich vergiftet.

Während Louis-Philippes Minister Thiers es mit militärischen Mitteln lösen will, versuchen die Dichter ihm mit allen Mitteln ihrer Kunst beizukommen. Auf die nationalchauvinistischen Verse des Historikers Edgar Quinet, der einen "gallischen Rhein" fordert, antwortet Nikolaus Becker mit seinem "Rheinlied", das seinerseits Alphonse de Lamartine zu einer Replik herausfordert: Seine "La Marseillaise de la paix" besingt den Rhein als "Nil des Westens, Trophäe der Nationen". Den französischen Salons und Kasernen war seine Friedenshymne zu pazifistisch; dort bevorzugte man den kriegerischen Ton Alfred de Mussets:

"Längst haben wir getrunken

Von Eurem deutschen Rhein.

Kann ein wohlklingender Reim

die erhabenen Huftritte unserer

Pferde auslöschen,

deren Spuren rot sind von

Eurem Blut?"

Diese Zeilen, die am 6. Juni 1841 sowohl in La Presse wie in der Revue de la Paris gedruckt wurden, versetzten die französische Intelligenzija in helle Aufregung. Als frischgekürtes Mitglied der Académie Française mochte auch Hugo der Debatte nicht fernbleiben. Er überarbeitete seine Notizen, und im Januar 1842 erschien sein Essay "Der Rhein. Briefe an einen Freund". Heute neigt man dazu, diesen Text als sentimentale Autobiographie zu lesen. In Wirklichkeit war er viel mehr als bloße Reisebeschreibung: einerseits eine Meditation über die Quellen, aus denen die europäische Kultur entspringt, eine Würdigung des "symbolischen Flusses", andererseits ein politisches Manifest, eine Protesthandlung, eine Erwiderung an die Adresse derer, die den Haß zwischen den Erben des karolingischen Reiches schürten.

Zwar macht sich Hugo in der Einleitung die Behauptung zu eigen, das linke Rheinufer gehöre zu Frankreich. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsmänner plädiert er jedoch für "Versöhnung" und verwirft das Argument einer Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich: "Die Deutschen sind Frankreich viel weniger feindlich gesinnt, als die Franzosen glauben." Er wagt sich sogar noch weiter vor: "Der Autor", wie er sich im Vorwort bezeichnet, fühlt sich als "Sohn dieses edlen und heiligen Vaterlandes aller Denker". Deutschland ist "eines der Länder, die er liebt, und eine Nation, die er bewundert". So groß ist seine Bewunderung, daß "wäre er kein Franzose, er ein Deutscher sein wollte".

Die logische Schlußfolgerung dieses geopolitischen Europa-Entwurfes ist die Vereinigung. Für Hugo bildet das "Bündnis Frankreichs und Deutschlands" den "Schlüssel zum europäischen Bogen": "Jede Zwietracht zwischen Frankreich und Deutschland renkt Europa aus seinen Fugen."

Bildtext: Victor Hugo (1802-1885): In der Jugend ein flammender Royalist


 
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