© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Frisches Bier in alte Schläuche
Rainer Falter geht der Frage nach, warum Bayern anders ist
Baal Müller

Die Behauptung, daß in Bayern "die Uhren anders" gehen, ist von den tatsächlichen oder vermeintlichen Parteigängern des Fortschritts nicht unbedingt schmeichelhaft gemeint; und doch schaut mancher derzeit entweder mit Sorge oder mit Hoffnung auf das vielgepriesene "bayrische Modell". Wie kommt es aber, daß gerade im verhältnismäßig konservativsten deutschen Bundesland die ökonomische und technologische Modernisierung besonders entschieden gefördert und trotzdem immer noch etwas mehr von der traditionellen Kultur bewahrt wurde als anderswo? Der Münchner Historiker und Philosoph Reinhard Falter, der als Naturschützer in den neunziger Jahren die Renaturierung der Isar südlich von München initiiert hat, nähert sich in seinem Buch "Warum ist Bayern anders?" dem Thema bayrische Identität mit den Mitteln phänomenologischer Geschichtsschreibung: Er präsentiert keine Daten-, Zahlen- und Faktenfluten - obwohl er souverän über diese verfügt -, nicht die nackten Ereignisse selbst, sondern die "Strukturen und Konstellationen", die in den Ereignissen aufscheinen.

Selbstbewußt bekennt der Heimatschützer und -forscher, daß Bayer zu sein nicht nur ein stärkeres Verhältnis zur Tradition zu haben bedeutet, "sondern ein Verhältnis zu dem, was Menschsein überhaupt ausmacht". Was sich nicht nur für preußische Ohren zunächst ein wenig lokalchauvinistisch anhören dürfte, entpuppt sich als anthropologische Bestimmung, wenn Falter mit Hans Jonas feststellt: "Die drei Merkmale des Menschseins sind Werkzeug, Bild und Grab." Ihnen korrespondieren die drei Bereiche jeder Kultur, nämlich Wirtschaft, Kunst und Religion, denen ihrerseits eine "Trinität der Landschaft als Stadt, Land und Wildnis" sowie die archetypischen Berufe des Handwerkers und Kaufmannes, des Bauern sowie des Jägers und Hirten entsprechen. Mit einer in der Neuzeit beschleunigenden Dynamik verschob sich dieses Verhältnis immer mehr zugunsten des ersten Aspektes: Der homo faber verdrängte den homo sapiens und den homo religiosus, wobei letzterer sich aber - der Patrona Bavariae sei dank! - in Bayern etwas länger behaupten konnte.

Die Ursache dafür liegt nicht so sehr im Katholizismus selbst als vielmehr in der von Falter eingehend belegten Tatsache, daß die katholische Kirche in Bayern den traditionellen Volksglauben weitaus mehr assimiliert und alten heidnischen Wein in christliche Schläuche gefüllt hat, als etwa im von Karl dem Großen gewaltsam missionierten Sachsen. Die christliche Mission erfolgte in Bayern nicht einheitlich und nicht immer von einer politischen Zentralgewalt unterstützt, sondern in drei Wellen, der römischen, der irischen sowie der fränkischen, von denen insbesondere die ersten beiden das von Falter als naturbezogene "Erfahrungsreligion" charakterisierte Heidentum allmählich in die christliche "Offenbarungsreligion" integrierten. Diese Synthese gelang nicht zuletzt deshalb, weil die Bajuwaren kein einheitlicher Stammesverband, sondern ein aus römischen, keltischen und germanischen Elementen bestehendes Mischvolk waren. Falter nennt sie die "Fußkranken" der Völkerwanderung, weil sie nicht den römischen Truppen, die der in römischen Diensten stehende Germane Odoaker 488 kurz nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches südwärts beorderte, nachfolgten, und auch im 6. Jahrhundert nicht mit den Langobarden nach Süden zogen. Es war also noch kein einheitliches Volkstum, daß diese "Urbayern" konstituierte, sondern ihre Seßhaftigkeit und besondere Prägung durch die heimische Landschaft des Voralpenlandes, dessen kulturbestimmenden Bedeutungsgehalt Falter unter Rekurs auf die Geopsychologie des fast vergessenen Heidelberger Psychologen und einstigen Reichspräsidentenkandidaten Willy Hellpach gründlich analysiert: Während die Alpen im Süden gleichermaßen Grenze sind und zur Grenzüberschreitung - im tatsächlichen wie auch im mythischen und metaphysischen Sinne - einladen, ist das Land nach Norden und Westen hin offen und bietet den fränkischen und später preußischen Widersachern bequeme Einfallsmöglichkeiten, so daß man sich ihnen gegenüber wenigstens geistig und kulturell wappnen mußte, wenn man es schon politisch und militärisch nicht vermochte. Die Seßhaftigkeit der Bevölkerung und die allmähliche Synthese aus landschaftsgebundener Erfahrungsreligion und einem Katholizismus, hinter dessen volkstümlichen Heiligen sich die heidnischen Götter oft mehr schlecht als recht verbargen, bewirkten nun in Bayern eine von Falter sogenannte "Geschichte abgemilderter Brüche", in der Heidentum und Christianisierung, Tradition und Aufklärung, Agrargesellschaft und industrielle Revolution nicht so abrupt und gewaltsam aufeinander folgten wie im übrigen Deutschland, das seinen Nationalcharakter vor allem in neuerer Zeit mit jeder Generation zu ändern scheint. Freilich war auch Bayern, in dem zwar die Bauernkriege ausblieben, das Volk sich aber sein Recht auf Wallfahrten gegen die aufgeklärte Obrigkeit kurioserweise mit Gewalt erkämpfen mußte, keine Insel der Seligen, und auch der bayrische Weg in die Moderne einschließlich ihrer Verirrungen kommt in Falters Buch nicht zu kurz.

Anders als manche kauzigen Berufsbayern, die, wie man einmal treffend bemerkte, nur den "Kini im Kopf" und den "Maßkrug im Gesicht" haben und Politik am liebsten durch Folklore ersetzen würden, gibt sich Falter keiner falschen Nostalgie hin: Wenngleich er die bayrische Monarchie in ihrer sinnstiftenden, ja sogar in ihrer metaphyischen Funktion, den Menschen auf eine göttliche Instanz hin zu entwerfen, erkennt, so sieht er doch, daß sich ihre Entwicklung zum Kulturkönigtum Ludwigs I., ihre Verflüchtigung in die Märchenwelten Ludwigs II. und schließlich ihre biedere Verwaltung durch den Prinzregenten Luitpold notwendig und aus inneren Gründen ereigneten, die unabhängig von persönlichen Leistungen und Fehlern zu analysieren sind. Modernisierung und Traditionsschwund werden somit zu einem, von Falter ausschließlich negativ bewerteten, Prozeß, aus dem nicht nur die städtebaulichen Verschandelungen und ökologischen Zerstörungen, denen sich Falter als Landschaftsschützer und Vorsitzender des Instituts für naturphilosophische Praxis entgegenstemmt, sondern auch die Katastrophen zweier Weltkriege, des Nationalsozialismus und des, in Bayern in Gestalt der Räterepublik freilich nicht gerade erfolgreichen, Kommunismus folgen. So sehr dem Autor zuzustimmen ist, wenn er Nationalsozialismus und Kommunismus als fast gleichermaßen verderbliche Ausprägungen des Totalitarismus begreift und damit nicht als "Rückfall in die Barbarei", sondern als Kehrseite der Moderne versteht, so ist doch zu betonen, daß es sich bei ihnen nicht um notwendige Konsequenzen handelt, die einem totalitär-deterministischen Geschichtsverständnis entsprächen, das gerade Falter ablehnen muß.

Es gibt somit auch in Zeiten, in denen gelegentlich vielleicht ein Laptop von einem Computerfreak in Lederhosen bedient wird, noch die Möglichkeit, an Traditionen anzuknüpfen, die nach den Worten des bayrischen Philosophen Max Scheler aus dem "Ewigen im Menschen" folgen - und wenn dieses Ewige in Deutschland auch a bisserl bayrisch ist, wird man schon nichts dagegen haben.

 

Reinhard Falter: Warum ist Bayern anders? Via verbis Bavarica, Wambach 2001, 328 Seiten, 18,50 Euro.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen