© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Der tugendhafte Alte
Japan: Mit Shintaro Ishihara könnte im Land der aufgehenden Sonne bald ein unkonventioneller Schriftsteller regieren
Albrecht Rothacher

Im April 1999 wurde der damals 66jährige erfolgreiche Romanautor, langjährige Abgeordnete der Liberaldemokratischen Partei (LDP) und konservative Intellektuelle Shintaro Ishihara zum Gouverneur der 11-Millionenmetropole Tokio gewählt. Seine Wiederwahl im Jahre 2003 gilt als sicher. 78 Prozent aller Tokioter sind mit seiner energischen Amtsführung und seiner deutlichen Sprache zufrieden. So wird Ishihara, eigentlich ein Außenseiter des konformistisch-korrupten japanischen Politikbetriebes um so nachdrücklicher als Nachfolger des glücklosen konservativen Premiers Koizumi gehandelt, desto stärker dessen Stern in den Umfragewerten abstürzt. Zuviel hatte Koizumi an Strukturreformen dem seit einem Jahrzehnt stagnierenden und von Banken- und Korruptionskrisen demoralisierten Land versprochen und zuwenig gehalten. Kommt nun die Stunde von Ishihara, dem lange geschmähten, eloquenten und intelligenten Jörg Haider Japans als Nothelfer aus der von dem korrupten Machtsyndikat aus Regierungspartei, Großindustrie und Ministerialbürokratie verursachten Stagnations- und Finanzkrise?

Ishihara wurde 1932 als Sohn eines wohlhabenden Reeders geboren. Zu seinen prägenden Jugenderfahrungen zählt, wie er und seine Freunde auf dem Schulweg von amerikanischen Tieffliegern beschossen wurden, die dann von japanischen Zero-Fliegern vertrieben wurden. In dem von sozialen und wirtschaftlichen Turbulenzen heimgesuchten Nachkriegsjapan schrieb er 1954 erst 22jährig in drei Tagen den Roman "Taiyo no kinsetsu" (Jahreszeiten der Sonne), der als Verkaufsschlager zum Kultroman der ihren Eltern entfremdeten Nachkriegsgeneration wurde: Jugendliche Rebellen, die die rigiden Normen der Kriegsgeneration ablehnten und sich ohne moralische Skrupel dem Kartenspiel, Raufhändeln und sexuellen Abenteuern hingaben. Das Buch wurde bald mit Shintaros Bruder Yujiro in der Hauptrolle verfilmt, der sich als japanischer James Dean und in seiner späteren Sängerrolle als japanischer Elvis auch nach seinem frühen Krebstod 1987 noch immer posthumer Beliebtheit erfreut. Das Jünglingswunder Shintaro gewann derweil für sein Werk Japans hochangesehenen Akutagawa Literaturpreis und wurde immer konservativer. Er befreundete sich mit dem auch im Westen bekannten Autor Yukio Mishima, der sich bei einem Putschversuch 1970 selbst entleibte, und seither Ishiharas literarisches Vorbild blieb. Seine Romanhelden waren nunmehr gewalttätige harte Burschen, die jedoch dem Ehrenkodex des Bushido treu blieben. Ishihara wurde Theaterdirektor, fuhr zum Nordpol, machte Segelregatten mit, durchquerte Südamerika mit einem Motorrad und schrieb einen Bestseller darüber. Im Trubel der militanten Studentenrevolte ging er 1968 in die Politik und wurde prompt für die konservative LDP ins Oberhaus gewählt. Er schloß sich dort der rechtsgerichteten parteiinternen Fraktion des späteren Premiers Takeo Fukuda, eines guten Freundes von Helmut Schmidt, an. Fukuda hatte die heute noch machtvolle Fraktion von Nobusuke Kishi geerbt, der unter Tojo Rüstungsminister und von 1957-60 Premierminister war - was in etwa gleichbedeutend wäre mit einem Bundeskanzler Albert Speer. 1972 gewann Ishihara in einem Tokioer Wahlkreis einen Sitz in dem politisch wichtigeren Unterhaus und schloß sich - als Gefolgsmann Fukudas - dem fraktionsübergreifenden rechten Bündnis Seirankai ("Sommersturm") an, das jedoch einige Jahre später wieder zerfiel, bzw. an der Überalterung der alten Herren ausstarb.

Während der nächsten zwei Jahrzehnte absolvierte Ishihara einerseits als Teil der herrschenden politischen Klasse die senioritätsbestimmte Ochsentour der LDP-Parlamentarier, die ihm wie allen anderen auch mit Kurzzeit-Ministerposten von 10-12 Monaten Dauer belohnt wurden. So wurde Ishihara ohne bleibende Spuren Umweltminister und später (1988) ebenso folgenlos Chef des korruptionsträchtigen Transportministeriums. Gleichzeitig verfolgte er seine Laufbahn als polit-literarischer Rechtsabweichler, schrieb eine wöchentliche Kolumne "Japan Erwache" in der konservativen Sankei Shimbun (Auflage: drei Millionen), und veröffentlichte 1982 den Politroman "Das verlorene Land", der Japan unter sowjetischer Besetzung schildert. 1989 schrieb er zusammen mit dem Sony-Chef Akio Morita (der dies bald unter US Druck öffentlich bereute) den Band "Japan, das Nein sagen kann", in dem er sich gegen das rückgratlose Verhandlungsverhalten gegenüber amerikanischen Handels- und Finanzforderungen wandte. Seinen damaligen Premier Yasuhiro Nakasone kritisierte er öffentlich als Schoßhund Amerikas. In dem damals gängigen Hochmut des seinerzeit noch ungebrochenen japanischen Wirtschaftswunders mit seinen maßlos inflationierten Boden- und Aktienwerten gab Ishihara den Amerikanern gute Tips, wie ihr verschwenderisches, überschuldetes Land an japanischen Tugenden genesen könnte. Japan könne dank seiner technologischen und moralischen Überlegenheit als Primus inter pares die Welt führen, schloß er. 1995 rief Ishihara gemeinsam mit dem malayischen Premier Mahatir das Zeitalter Asiens aus. Zwei Jahre später wurden sie von der Asiatischen Finanzkrise und dem Internationalen Währungs Fonds (IWF) auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeholt. Noch 1995 verließ Ishihara schließlich nach 27 Jahren die von Spaltungen und Korruptionsskandalen erschütterte LDP endgültig, jedoch ohne alle Brücken abzubrechen. Sein Sohn Nobuteru blieb und ist heute Staatsminister für die Verwaltungsreform im Kabinett von Koizumi.

China und Nordkorea als Hyänen bezeichnet

Ishiharas Leidenschaft gilt der Außen- und Sicherheitspolitik Japans, die er in allen Interviews und Aufsätzen drastisch thematisiert. Für ihn geht die Hauptbedrohung von China und Nordkorea aus. Ihre kommunistischen Diktatoren sind "Hyänen", die anderer Leute Leistung stehlen, im Inland wie im Ausland. Rotchina sei nach dem Untergang der Sowjetunion das letzte Gewaltimperium, das fremde Völker, Kulturen und Religionen unterjoche. Das KP-Regime erhalte sich nach Maos Massenmorden nur durch seinen Drang nach regionaler Hegemonie und Expansion (etwa nach den ölträchtigen Spratley Inseln weit im Süden des Südchinesischen Meers, die auch von Vietnam, Malaysien, den Philippinen und Brunei beansprucht werden) . Je mehr China in seine Einzelteile zerlegt werde, desto besser sei es für das Kräftegleichgewicht in der Region. Deshalb tritt Ishihara unter anderem für die Unabhängigkeit Taiwans und Tibets ein. Als erste auswärtige Amtshandlung besuchte er Taiwans Präsidenten Teng-hui Lee und lud den Dalai Lama nach Tokio ein. Genußvoll steigt er bei jeder passenden Gelegenheit den Pekinger Machthabern auf die Füße. Er fordert die Einstellung jeglicher Entwicklungshilfe an China, da diese nur der Finanzierung der chinesischen Wasserstoffbombe diene. China führe als Hauptdrogenlieferant einen Opiumkrieg gegen Japan. Es stehle Japans Patente und geistiges Eigentum. Seine Wettbewerbsstärke beruhe auf Zwangsarbeit und dem Fehlen gewerkschaftlicher Rechte. Auf den zwischen Japan und China umstrittenen unbewohnten Sentaku Inseln zwischen Taiwan und Okinawa ließ Ishihara einen Leuchtturm errichten. Er soll dem japanischen Besitzanspruch Nachdruck verleihen.

Zum "cause célèbre" des chinesischen Opfermythos gehört vorrangig das gut dokumentierte Massaker von Nanking im Dezember 1937, als die durch den unerwartet harten chinesischen Widerstand erbitterten japanischen Truppen nach der Einnahme der Stadt bis zu 300.000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordeten (Dem "guten Nazi von Nanking" John Rabe gelang es damals durch deutsche Schutzpapiere einige Tausend vor der japanischen Soldateska zu retten). Laut Ishihara wurden die Opferzahlen von der chinesischen Kriegspropaganda stark inflationiert, vielleicht sei das ganze Massaker auch erfunden worden. Ishiharas Abneigung wird von der Pekinger Regierung aus vollem Herzen erwidert. So nennt ihn das Außenministerium in bester maoistischer Diktion die "häßliche Fratze des japanischen Militarismus", die nur "idiotischen Unsinn" von sich gebe. Für Ishihara hat das Militärbündnis mit den USA nur dann einen Sinn, wenn Japan und die USA gemeinsam die wachsende chinesische Bedrohung im Schach halten. Er meint, die USA hingen in ihrer Pazifikstrategie von ihren japanischen Marinestützpunkten in Sasebo bei Nagasaki, Yokosuka bei Yokohama und der Luftwaffenbasis Kadena auf Okinawa so stark ab, daß Japan das Stationierungsabkommen zugunsten Japans (einschließlich der Rückgabe des Kriegsflughafens Yokota bei Tokio zur zivilen Nutzung) und das Beistandsabkommen zu einem Bündnis gleichberechtigter Partner umverhandeln könne. Japan brauche eine aufgerüstete, gefechtsbereite und autonome Verteidigungskapazität mit einem eigenen Raketenabwehrsystem. Es müsse seine von Mc Arthur 1945 oktroyierte Verfassung, deren Artikel 9 auf Kriegsführung verzichtet und eigene Streitkräfte verbietet, endlich ändern.

Als Bürgermeister der 11 Millionenmetropole Tokio übernahm Ishihara einen finanziellen Scherbenhaufen von 60 Milliarden Euro Schulden, ein jährliches Haushaltsdefizit von 800 Millionen Euro, einen 190.000 Mann starken Beamtenapparat, dessen Gehälter allein 30 Prozent des Haushalts verschlangen. Ishihara bezog die Luxusetage seines Vorvorgängers im Tokioer Rathaus mit seinen 42stöckigen Doppeltürmen, deren Bau 1990 1,5 Milliarden Euro und dessen jährlicher Unterhalt 50 Millionen Euro kostet. Jedermann erwartete sein Scheitern. Denn schon seinem Vorgänger Yukio Aoshima, ein prominenter Fernsehkomiker, der als witzige anti-Establishment Figur 1995 mit Proteststimmen gewählt worden war, verging das Lachen vor dem Moloch des Verwaltungsapparats - er scheiterte. Ishihara dagegen ließ die überteuerten korruptionsverseuchten öffentlichen Bauprojekte brutal zusammenstreichen, kürzte die überhöhten Gratifikationen und ließ überzählige Beamte kurzerhand vorzeitig pensionieren. Damit verminderte er das Haushaltsdefizit um ein Drittel. Er schränkte gegen den Widerstand der Speditionen-Lobby die Fahrten luftverpestender Diesel-LKWs im Stadtgebiet deutlich ein und reduzierte so die Luft- und Lärmbelastung. Er ließ die Präfekturversammlung eine dreiprozentige Gewinnsteuer auf alle in Tokio ansässigen Banken beschließen. Die Steuer hätte eine Milliarde Euro gebracht und alle Haushaltsprobleme gelöst. Sie war enorm populär, da die Großbanken zu steuerfreien Kostgängern des Staates mutiert waren, der ihre durch ihr inkompetentes Management akquirierte "faule" Schulden wohlfeil übernahm. Allerdings ließ das eifersüchtige Finanzministerium im Verein mit der Bankenlobby das in seiner Einfachheit geniale Bankensteuergesetz wieder kassieren.

Beim Erdbeben von Kobe 1995 mit seinen 5000 Toten hatten das Militär und der Rettungsdienst versagt. Um Abhilfe zu schaffen und die Militärbürokraten zum Handeln zu bewegen, ließ Ishihara im September 2001 in einer Übung von 7.000 Soldaten und 18.000 Polizisten ein mit Genuß martialisch angelegtes Rettungsspektakel mit Panzern und Kampfhubschraubern in den Straßen der Hauptstadt inszenieren.

Japanische Politik ist extrem konsensorientiert

Als "Kriegsspiel" von linken Medien denunziert, verteidigte Ishihara seine Übung damit, das Militär müsse auch gegen erwartete Plünderer und Brandschatzer aus den Reihen der illegalen Einwanderer und der seit Jahrzehnten ansässigen Koreaner und Chinesen, die er abschätzig "Sangokujin" (Drittlandsbewohner), 'Kanaken' oder 'Nigger' entsprechend, nannte, schützen. Darauf entrüsteten sich seine politischen Gegner wie beabsichtigt um so lauter. Der Publikumserfolg war da und die Zuschauer erfreute das öffentliche Spektakel, das es im konformistischen Japan so selten gibt. Wichtig ist den meisten Japanern weniger, was Ishihara sagt, sondern wie er es sagt. Die Japaner sind gewohnt, daß ihre Poilitiker unausgesetzt unverbindliche, uninformative Gemeinplätze absondern, während sie sich unverbesserlich zum Erhalt ihrer teuren Wahlkreisorganisationen bei Bauprojekten, Lizenzvergaben und Fördermaßnahmen die Taschen füllen. Ishihara ist unübersehbar anders. Er ging die konkreten Probleme der Großstädter unmittelbar an: seien es Diesel-LKWs, die schlechte Gesundheitsversorgung für die Alten, die astronomische öffentliche Verschuldung, die Angst vor Erdbeben oder Verbrechen. Ishiharas veröffentlichten Provokationen und Tabubrüche haben Methode. Bei einem kürzlichen Interview mit Newsweek gab er brav staatsmännisch-korrekte Antworten. Am Ende wurde er nach seiner Reaktion auf die von Nordkorea für Schulungszwecke des dortigen Geheimdienstes entführten elf japanischen Staatsbürger befragt. Ishihara erklärte wörtlich: "Als Premier würde ich Nordkorea den Krieg erklären, denn ein Staat hat zur obersten Pflicht seine Staatsbürger zu schützen". Natürlich weiß Ishihara, daß es Unsinn ist, wenn das defensiv und schwach gerüstete Japan die Atommacht Nordkorea angreift, geschweige denn, daß es damit seine elf gestohlenen Bürger retten könne. Doch der Skandal und die gewünschte Schlagzeile in der Weltpresse könnte als willkommener Kontrast zur verschwiegenen und konsensverhafteten offiziösen Außenpolitik größer nicht sein.

Ishihara steht für den Protest vor allem junger und konservativer Wähler gegen die handlungsunfähige Zentralregierung der mächtigen Ministerialbürokratie und des wohlfeilen Sprücheklopfers Koizumi, gegen die soziale Disorientierung und wachsende Arbeitslosigkeit, eine strukturell korrupte Politik, die hauptsächlich konkursreife Großbanken, Baufirmen und Agrargenossenschaften saniert und gegenüber der Entfremdung und Geburtenverweigerung einer verwöhnten hedonistischen Jugend, die die alten Werte Japans unerschrocken betont. Unstreitig populär, fehlt dem großen Kommunikator und politischen Einzelgänger die Hausmacht.

Kann Ishihara der nächste Premier werden? Mit jetzt 69 Jahren ist er nicht mehr der Jüngste, doch in Japan ist das kein Hinderungsgrund. Die Ernüchterung um den scheiternden Amtsinhaber Koizumi - selbst ein Außenseiter ohne Hausmacht im LDP Establishment - wird stärker werden. Binnen Kürze werden die Granden der Partei ihn, den Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat, fallen lassen wie schon seine Vorgänger. Ishihara müßte seine eigene Partei gründen und wichtige Abgeordnete und Fraktionen der regierenden LDP und der rechtskonservativen Demokraten als der führenden Oppositionspartei zum Beitritt ermuntern. Angesichts des demoralisierten Zustands der japanischen Linken, der Sozialisten und der Kommunisten, der Auflösungserscheinungen der von Korruptionsaffären durchseuchten Mitte, ist Ishihara als durchsetzungsstarker Premier eine realistische Option geworden. Schon haben US-Medien begonnen, sich die üblichen Dämonisierungen abzuschminken und Ishihara als möglicherweise einzigen Notlöser der immer bedrohlicher werdenden verschleppten japanischen Wirtschafts- und Finanzkrise darzustellen. Thomas Foley, scheidender US-Botschafter in Tokio und ehemals demokratischer Sprecher des Repräsentantenhauses nannte schon vor Jahresfrist Ishihara folgerichtig öffentlich "a very distinguished man", einen "Herrn mit großen Verdiensten."


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen