© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Westliche Doppelmoral
Carl Gustaf Ströhm

Schöne Worte werden immer wieder über die "westliche" Wertegemeinschaft in die Welt gesetzt. Über die Tatsache, daß dieses hehre Prinzip höchst willkürlich praktiziert wird - meist nach der alten lateinischen Regel Quod licet Jovi, non licet bovi (Was den Göttern erlaubt ist, ist nicht den Ochsen erlaubt), schweigt des Werte-Sängers Höflichkeit.

Wo in diesem Spiel die "Götter" zu finden sind, ist klar: in den Gremien von Nato und EU, sowie in einigen westlichen Regierungen. Und die "Ochsen"? Das sind vor allem die postkommunistischen Nationen, denen man Ermahnungen und auch Drohungen zuteil werden läßt.

Nachdem erst neulich der US-Botschafter in Tallinn sein estnisches Gastgeberland ermahnte, nun endlich den Holocaust aufzuarbeiten, widrigenfalls Estlands Nato-Aufnahme auf dem Spiel stehe, wurde die US-Diplomatie, eilfertig unterstützt von hohen EU-Funktionären, gegenüber der Slowakei noch deutlicher. Ein Sieg des "Populisten" Vladimír Meciar bei den Wahlen im September, so ließ der US-Botschafter in Prag, Craig Sta-pleton, verlauten, hätte zur Folge, daß man die Slowakei nicht zum bevorstehenden Prager Nato-Gipfel einladen werde, auf dem die Entscheidung über die Aufnahme in das westliche Bündnis falle. Und Nato-Generalsekretär Lord Robertson richtete den Slowaken aus, daß sie, wenn sie in die Nato wollten, auch die "richtigen" Parteien zu wählen hätten.

Diese neue Art der unverblümten Einmischung in die "inneren Angelegenheiten" höhlt die mühsam zurückgewonnene Souveränität der vom Kommunismus befreiten Nationen aus. An die Stelle des ideologischen Zuchtmeisters aus Moskau treten internationale Funktionäre, die nicht die geringste Legitimation haben, sich in die innenpolitische Willensbildung von Ländern einzumischen - es sei denn, man betrachtet die Machtausübung gegenüber einem Schwächeren als Rechtstitel für solche Aktionen.

Die ganze Szenerie, die über kurz und lang zu einer schweren Vertrauenskrise zwischen den westlichen Institutionen und den Völkern Mittel- und Osteuropas führen könnte, ist um so absurder, als in anderen Fällen, wo wirklich Wachsamkeit am Platz wäre, geradezu hanebüchene Nachlässigkeit und "Toleranz" herrschten.

Als letzten Monat der neue Ministerpräsident der ungarischen Linksregierung, Péter Medgyessy, von der Budapester Zeitung Magyar Nemzet beschuldigt wurde, seit 1977 Offizier der ungarischen Stasi gewesen zu sein, reagierte die westliche Öffentlichkeit samt den sonst so "wertbewußten" Regierungen und Politikern teils desinteressiert, teils milde und abwiegelnd. Die Frage, ob die Mitgliedschaft (dazu noch im Offiziersrang) des ungarischen Regierungschefs in einer Organisation, die bei vielen Ungarn als verbrecherisch gilt, politisch-moralisch mit westlichen "Werten" zu vereinbaren sei, scheint die Moral-Hüter in Nato und EU nicht zu interessieren.

Offenbar genügt es, über beste Beziehungen zur internationalen Finanzwelt zu verfügen und gehorsam westliche Forderungen gegenüber dem eigenen Volk und Staat zu exekutieren, um auch als Ex-Stasi-Oberleutnant ein wohlgelittener und beschützter Freund und Partner der westlichen Demokratien zu sein. Jene, die da nicht mitziehen oder gar Schwierigkeiten machen, sind wie Meciar (und andere) üble Populisten, Nationalisten und Feinde des Fortschritts. Es stellt sich die Frage: Wohin steuert der Westen eigentlich, wenn er so weitermacht?


 
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