© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Es droht ein langer, heißer Sommer
Nordirland: Immer neue Gewaltausbrüche unterminieren den Friedensprozeß / Mißtrauen wächst wieder
Martin Lohmann

Es ist fast wieder so wie im Frühsommer letzten Jahres: Damals entzündeten sich die Gewaltausbrüche in Nordirland an den Übergriffen gegen eine katholische Schule im Nordwesten Belfasts, dieses Jahr liegt der Brennpunkt der Ausschreitungen am Rand einer katholischen Enklave im Osten. Hier war es letzte Woche zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und rund 300 irisch-katholischen Republikanern gekommen, nachdem die Polizei einen Triumphmarsch des pro-britischen, protestantischen Oranier-Ordens durch eine "katholische" Straße geschützt hatte. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein und meldete sechs verletzte Beamte. Letzten Sonntag griff eine Gruppe von etwa 50 irisch-republikanischen Jugendlichen die Polizeistation des Ortes Rosslea in der Grafschaft Fermanagh mit Steinen, Flaschen und anderen Wurfgeschossen an. In der Nacht zuvor waren zwei 15 Jahre alten Jungen die Kniescheiben durchschossen worden - eine nicht seltene "Strafaktion" in der Auseinandersetzung zwischen radikalen Katholiken und Protestanten.

Vier Jahre sind vergangen, seit 1998 mit dem Inkrafttreten des Karfreitagabkommens der Bürgerkrieg in Nordirland für beendet erklärt und der Friedensprozeß in der britischen Unruheprovinz eingeleitet wurde. Eine Zeit, in der sich dort politisch viel bewegt hat, die aber dem Land nicht die erhoffte Aussöhnung zwischen den Konfliktparteien gebracht hat. Vieles deutet sogar darauf hin, daß die Kluft zwischen Protestanten und Katholiken größer geworden ist und sich Nordirland als ein typischer kultureller Bruchlinienkonflikt erweist. Um den Konflikt in Nordirland besser verstehen zu können, muß man sich von der hierzulande inzwischen fest verankerten Vorstellung eines Religionskrieges zwischen Protestanten und Katholiken verabschieden. Die Wirklichkeit ist wesentlich komplexer.

Infolge der 1921 vollzogenen Trennung der Insel in die Republik Irland und die nordirische zu Großbritannien gehörende Provinz Ulster stehen sich dort irischstämmige Nationalisten katholischer Konfession sowie Loyalisten und Unionisten protestantischer Konfession gegenüber, die für den Verbleib Ulsters zu Großbritannien eintreten und die die Nachkommen britischer Kolonisten des 17. Jahrhunderts sind, angesiedelt, um den Widerstand der Iren gegen die britische Herrschaft zu brechen. Die Minderheitsgesellschaft der katholischen Iren fand sich hier in einem Apartheidsystem wieder, das sie systematischer Diskriminierung aussetzte. Die daraus resultierenden Spannungen führten 1969 zum Bürgerkrieg, in dem die Untergrundarmee IRA (Irisch-Republikanische Armee), unterstützt von ihrem politischen Arm, der linksnationalistischen Sinn Féin, die Wiedervereinigung Irlands mit Gewalt erzwingen wollte. Das britische Mutterland hatte die Situation mit dem Einsatz militärischer Gewalt nur mühsam unter Kontrolle bringen können.

Nirgendwo fokussiert sich der Gegensatz zwischen beiden Konfliktparteien deutlicher als in Belfast, der Provinzhauptstadt Nordirlands. Auf dem ersten Blick fällt dem Beobachter die Vielzahl pompöser Prestigebauten auf, die dort seit dem 1994 ausgerufenen Waffenstillstand entstanden sind, um den Fortschritt in der Region voranzutreiben. Jedoch offenbart sich hinter der schönen Fassade weiterhin das häßliche Bild des Konfliktes, erweist sich der Alltag als geprägt von Gewalt, Kriminalität und sozialer Perspektivlosigkeit.

Die Separierung zwischen den Konfessionsgruppen nimmt weiter zu, die Wohngebiete sind weiterhin durch hohe Zäune und Mauern, euphemistisch "Peacelines" genannt, voneinander abgeschottet. Das gegenseitige Mißtrauen ist so groß, daß diese Mauern noch auf unabsehbare Zeit Bestand haben werden.

Das jeweilige Territorium wird abgesteckt durch irische und britische Fahnen und durch die vielen Wandgemälde, Murals genannt, deren Motive und politischen Botschaften Ausdruck der eigenen nationalen Identität sind. Während die Katholiken auf ihren Murals häufig ihre politischen Märtyrer verherrlichen, sind die Darstellungen auf protestantischer Seite oftmals von sehr martialischem Charakter, und es fällt auf, daß die Farbe auf ihnen sehr frisch ist.

Verschärft durch den Niedergang der Industrie ist die Arbeitslosigkeit in den Konfliktvierteln, in denen zumeist ungelernte Arbeiter leben, sehr hoch. Die negativen Folgen der Globalisierung drohen die Friedensdividende der vergangenen Jahre zunichte zu machen.

Vor allem der Westen und Süden der Stadt, deren Siedlungsmuster wie ein Flickenteppich der beiden Konfessionen erscheinen, und die katholische Enklave Short Strand im Osten werden nach Einbruch der Dunkelheit immer wieder von heftigen und gut organisierten Krawalle - wie vor ein paar Wochen beim Thronjubiläum der britischen Königin und jetzt wieder in den vergangenen Tagen - erschüttert. Katholische und protestantische Jugendbanden haben offenbar Gefallen an Gewalt als "Lifestyle"-Kultur gewonnen und schrecken nicht einmal davor zurück, Brandsätze und Rohrbomben auf Wohnhäuser zu werfen oder gar Schußwaffen einzusetzen. Zwischen den Fronten steht der nordirische Polizeidienst, der trotz einer Reform nach wie vor von der katholischen Bevölkerung abgelehnt wird, die in ihrer Haltung von Sinn Féin noch bestärkt wird.

In dieser Atmosphäre mehren sich auf beiden Seiten die Stimmen derer, die sich fragen, was ihnen der Friedensprozeß eigentlich gebracht habe. Der fragile Frieden in Nordirland gleicht eher einem "kalten Krieg". Besonders auf Seiten der Protestanten nimmt die Ablehnung des Karfreitagabkommens zu. Sie sehen ihre traditionelle Vormachtstellung als Mehrheitsgesellschaft gefährdet, vor allem durch die hohe Geburtenrate der katholischen Bevölkerung, die zum einen auf den - allerdings abnehmenden - Einfluß der konservativen katholischen Kirche als auch auf soziale Faktoren zurückzuführen ist. Diese ungünstige Situation wird von protestantischen Paramilitärs zum Anlaß genommen aufzurüsten.

Die anhaltende Gewalt sowie Geheimdienstberichte, wonach IRA-Mitglieder in Kolumbien Raketentests durchgeführt hätten, führten unterdessen zu einer neuen Krise in der nordirischen Allparteienregierung. Führende Unionisten sehen in den Raketentests Vorbereitungen für einen neuen Krieg und verstärken den Druck auf Englands Premier Tony Blair, den formellen Bruch des Waffenstillstands zu erklären, um dadurch die verhaßte Sinn Féin von der Allparteienregierung auszuschließen.

Nordirlands Regierungschef David Trimble von der Ulster Unionist Party (UUP) erwägt einen erneuten Rücktritt, um Sinn Féin zu weiteren Fortschritten in der Beendigung paramilitärischer Aktivitäten zu zwingen und erinnerte Blair an sein Versprechen, verschärfte Sanktionsmechanismen nachträglich in das Karfreitagsabkommen einzubauen. Von Sinn Féin-Präsident Gerry Adams wird viel abverlangt, um das "verlorene Vertrauen" wiederherzustellen.

Ausgerechnet in dieser brisanten Lage nähert sich der traditionelle Höhepunkt der Marschsaison, wenn am 12. Juli der Oranierorden die Schlacht an der Boyne feiert, die 1690 die protestantische Vorherrschaft über Irland gesichert hat. Auch in diesem Jahr wird der Orden gegen alle Widerstände darauf bestehen, durch katholische Wohngebiete zu ziehen; ein Vorrecht, das noch aus einer Zeit herrührt, als diese Gebiete noch protestantisches Territorium waren. Auch dieses Jahr hat Nordirland wieder die Aussicht auf einen langen, heißen Sommer.


 
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