© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Neue Technologien: Der Fall Sebastian
Wer die Wahl hat, hat die Verantwortung
Angelika Willig

Diese Gesellschaft wird immer unmenschlicher", sagt Hubert Hüppe, stellvertretender Vorsitzender der Bundestags-Enquete-Kommission Ethik und Recht in der Medizin.

Stimmt das? Sicher ist unsere Gesellschaft immer noch unmenschlicher, als wir uns das wünschen, aber bestimmt ist sie humaner, sozialer, liberaler als jede Gesellschaft zuvor. Wie kommt Hüppe zu seiner Behauptung? Letzte Woche ist eine Ärztin vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe zu Unterhalts- und Schadensersatzzahlungen verurteilt worden, weil sie auf der Ultraschallaufnahme eines Embryo im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium starke körperliche Defekte übersehen hatte. Die Eltern haben den mittlerweile sechsjährigen Jungen, dessen Gliedmaßen sämtlich verkrüppelt sind, lieb gewonnen und bieten alle Kräfte auf, um optimal für ihn zu sorgen. Den finanziellen Aufwand trug bisher ihre eigene Versicherung. Die weigert sich nun, und die Haftpflichtversicherung der Ärztin soll nach dem Willen der Kläger einspringen.

Das klingt allerdings alles sehr unmenschlich. Ein Mensch wird zum Bildschirminhalt, ein Mensch wird zum Kostenfaktor, ein Mensch wird zum Versicherungsfall, ein Mensch wird zum juristischen Schaden. Das empört den CDU-Politiker Hüppe. Stellen wir uns einmal vor, was in der "guten alten Zeit" aus einem Kind wie Sebastian geworden wäre. Mangels Pränataldiagnostik wäre es geboren worden, ohne je eine Wahl zu lassen. Lief ein Behinderter früher auf den Straßen umher, riefen die Kinder gehässige Worte, und die Erwachsenen zeigten mit dem Finger. Im Hause vegetierte er, recht und schlecht gefüttert, ohne jede geistige Förderung vor sich hin. Versicherung, Sonderschule, Elterngruppen gab es alles nicht. Die damals geübte "Menschlichkeit" bestand in einer demütigen Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Grausamkeit der Natur. Wir sind nicht unmenschlicher geworden, wir haben nur dank der Technik mehr Möglichkeiten, etwas falsch zu machen. Es besteht ein erheblicher Unterschied, ob eine Frau ihr schwerbehindertes Kind austrägt, ohne es zu wissen, oder ob ihr zugemutet wird, die letzten Monate der Schwangerschaft mit der Vorstellung der Behinderung vor Augen zu leben. Es könnte sogar sein, daß in dieser scheinbar natürlichen Forderung angesichts künstlicher Bedingungen das eigentlich Unmenschliche besteht.

Um den Fall zu gewinnen, mußte der Elternanwalt zu einer höchst angreifbaren Argumentation greifen. Er behauptete das Vorliegen einer "medizinischen Indikation" für die Abtreibung. Die darf sich aber gemäß § 218 in seiner Neufassung nur auf die Mutter beziehen. Die Mutter ist aber mit einem schwerbehinderten Kind nicht körperlich, sondern "nur" seelisch gefährdet. Nur mit dem Argument einer hohen Selbstmordgefahr seiner Mandantin nach der Geburt konnte der Anwalt sich durchsetzen.


 
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