© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Hoch über dem Getümmel der Welt
Vorweggenommene Theorie der Postmoderne: Zum 125. Geburtstag des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Hermann Hesse
Doris Neujahr

Sie will etwas Besonderes sein, die Hermann-Hesse-Ausstellung im Berliner Kulturforum, die von der Hermann-Hesse-Stadt Calw und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz gemeinsam ausgerichtet wird. Die Besucher sollen ihr Idol, dessen 125. Geburtstag (am 2. Juli) und 40. Todestag (am 9. August) in diesem Sommer anstehen, nicht einfach romantisch beglotzen, sondern als einen "Hesse von Innen" erspüren. "WeltFlechtWerk" heißt das Ganze, weil die Gegensätze in dieser Welt zu einem Ganzen verflochten sind. Oder etwa nicht?

Die Besucher schreiten durch fast leere "Themenräume", die heißen "Scherben und Perlen", "Himmel über der Stadt", "Im Wirbel der Beschleunigung" und ähnlich tiefsinnig. Ihr Grundmuster: Auf Schrifttafeln werden Hesse-Sentenzen geboten, an den Wänden erscheinen fahrige Projektionen und Lichtspiele, oder es sind Glasvitrinen darin eingelassen, in denen banale Gegenstände, Weinflaschen zum Beispiel, zu bestaunen sind. Alles ist Symbol, raunt es dem Besucher zu, der die Zusammenhänge selber herstellen soll und Gelegenheit bekommt, selbstverfertigte Gedanken auf Plastikkärtchen ("Scherben und Perlen" eben) oder in den Computer zu schreiben. In diesem Fall erscheinen sie als Schriftzug an der Decke: Eine interaktive Klippschule. Der Themenraum "Explodieren - Sich finden" hat nichts mit dem 11. September zu tun. Zwischen kahlen weißen Wänden laden schwarze Ledersessel zum Verweilen ein, und eine Männerstimme säuselt: "Seltsam, im Nebel zu Wandern! / Leben ist Einsamsein. / Kein Mensch sieht den andern, / Jeder ist allein".

Der Zuhörer begreift, was den Ausstellungsmachern entgangen ist: Hesse war ein miserabler Lyriker, der im stählernen Zeitalter Eichendorff und Mörike noch einmal schreiben wollte und dabei im Kitsch gelandet ist. Der Kitsch wird nicht, wie man das erwarten sollte, gründlich dekonstruiert, sondern zelebriert und wörtlich genommen. In dieser unfreiwilligen Komik offenbart sich der Webfehler der Exposition, die die Tatsache, daß die Popularität dieses weltweit meistgelesenen deutschen Schriftstellers wesentlich auf der Mischung aus Gurutum und Kolportage beruht, einfach nicht wahrhaben will.

Man muß also doch wieder den konventionellen Zugang suchen, und das heißt, wie sie oft, den über Thomas Mann. Der, als Künstler zweifellos der Größere, blickte im hohen Alter neidisch auf den im Tessin lebenden Kollegen, der an seinem Gartentor das Schild anbrachte: "Bitte keine Besuche". Er selber hetzte ruhelos umher, gierig nach öffentlichen Auftritten, Reden, Preisverleihungen und wünschte sich, "es wie Hesse (zu) machen, der sich entschlossen zur Ruhe gesetzt hat, hie und da ein Feuilleton, einen Rundbrief an seine Freunde schreibt und sich im Übrigen einen guten Abend macht. Aber ich verstehe mich nicht darauf, weiß nicht, wie ohne Arbeit die Tage verbringen (...)."

Was hier durchschimmert, ist der Neid auf eine gelebte Altersweisheit, die ihm selber unmöglich war. Zu vieles, was in ihm gearbeitet hatte, hatte er unter der Decke gehalten, und nun konnte es nicht zur Ruhe kommen.

Diese Ruhe im Alter hatte auch Hesse, der 1877 geborene Sohn von Pietisten, die einst in Indien missioniert hatten und im württembergischen Calw lebten, sich schwer erkämpfen müssen. Der Schüler des Maulbronner Seminars war 1892 nach nur sechs Monaten aus seiner berühmten Lehranstalt entflohen. Selbstmordgefährdet, kam er in eine Heilanstalt. Statt eines Studium begann er eine Buchhändlerlehre und war auf dem Wege, vielleicht keine verkrachte, aber eine mit ihrem unverdient banalen Schicksal hadernde Existenz zu werden.

In seinem Schülerroman "Unterm Rad" (1906) hat er einige Gründe seiner Flucht preisgegeben. Dieses Buch, nach dem pietistisch-sentimentalen "Peter Camendzind" (1904) sein zweiter Roman, ist unter den Frühwerken das bis heute beliebteste. An ihm entzündet sich aber auch der Vorwurf einer nie überwundenen, pubertären Weinerlichkeit.

Zunächst aber steht der Roman in einer Linie mit Wedekinds "Frühlings Erwachen", Musils "Törleß" oder Heinrich Manns "Untertan". Diese parallele Stoffwahl erklärt sich daraus, daß der Kontakt mit der Schule die erste und oft einzige direkte Erfahrung der jungen Autoren mit dem Staat war. Die Schule spielte bei der Formung "guter Staatsbürger" eine Schlüsselrolle und wurde von sensiblen Gemütern als quasi-militärische Disziplinierung empfunden. Jedenfalls war sie auch 100 Jahre "vor Erfurt" kein Zuckerschlecken.

Die hier erprobten Konstellationen: der schroffe Dualismus von Rebellion und Anpassung, gelebter Sinnenfreude und entsagender Askese, und seine Personifizierung in wenigen, oft holzschnittartigen Figuren, hat Hesse bis ins Spätwerk beibehalten.

Für die Kenntnis seiner inneren Biographie sind seine vor der Jahrhundertwende verfaßten Frühwerke "Eine Stunde hinter Mitternacht" oder "Hermann Lauscher" womöglich noch aufschlußreicher. Literarisch wenig belangvoll, spiegeln sich in den neuromantisch und symbolistisch ausstaffierten Texten starke sexuelle Spannungen wider, die auf seine Herkunft aus einem glaubensstrengen, prüden Elternhaus zurückgehen. Hesse heiratete eine wesentlich ältere Frau, wurde Vater dreier Kinder und ließ sich in einer dörflichen Idylle am Bodensee nieder. Hier verfaßte er eine Reihe sprachschöner, stets etwas sentimentaler Romane und Erzählbände. Sie spielen im alemannischen Raum weitab der städtischen Zentren, berichten von Außenseitern, von psychologischen und Ehekonflikten, wobei die seelischen Zustände in romantischen Naturbildern ausgedrückt werden.

Hesse war ein erfolgeicher Autor, doch das hätte kaum ausgereicht, um mehr zu werden als ein ein "durchschnittlicher Entwicklungs-, Ehe- und Innerlichkeitsschriftsteller - eine typisch deutsche Sache" (Gottfried Benn) und schließlich eine großstädtische Hippie-Jugend in den Bann zu ziehen. Selbst "Unterm Rad" ist nicht besser, eher schwächer als der gleichgeartete Roman "Freund Hein" seines Freundes und Schriftstellerkollegen Emil Strauß, von dem heute kein Mensch mehr spricht.

Er hat damals selber sein Ungenügen gespürt. 1911 unternahm er eine halbjährige Indienreise, 1912 zog er in die Schweiz, in einen Berner Vorort. Die eher zufällig entstandene, geographische Distanz zu Deutschland wurde beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs für ihn entscheidend. Denn anstatt fortgerissen zu werden vom allgemeinen Taumel und dem "holden dichterischen Schwachsinn" (K. Kraus), behielt er einen kühlen Kopf und veröffentliche November 1914 den kritischen Aufsatz "Oh Freunde, nicht diese Töne!". Der war keineswegs pazifistisch angelegt, doch Hesse appellierte an die Intellektuellen Europas, den Krieg nicht auf die geistige Sphäre zu übertragen.

In den Folgejahren zerbrachen neben der europäischen Staatenwelt auch Hesses Familienidyll, seine ästhetischen Überzeugungen und das gewohnte literarische Leben in Deutschland. Seine Frau mußte sich dauerhaft in psychiatrische Behandlung begeben, er selber nahm psychoanalytische Sitzungen in Anspruch. Das Haus in Bern gab er auf und zog als abgebrannter Literat, dessen Honorare durch die Geldentwertung zu Nichts zerflossen, in den sonnigen Schweizer Tessin. 1923 wurde er Schweizer Staatsbürger.

Im Aufsatz "Zarathustras Wiederkehr" (1919) forderte er, nun ganz Anti-Bürger, den Zusammenbruch der Vorkriegswelt als individuelle Chance zu begreifen. Statt der kaiserlichen "Opernherrlichkeit von vorgestern" nachzutrauern, sollten die Deutschen den Weg nach Innen suchen: "Einsamwerden, Duselbstwerden, Loskommen von Vater und Mutter, so heißt der Schritt vom Kind zum Manne, und niemand geht ihn ganz. Jeder nimmt (...) einen Faden mit, zieht einen Faden nach, mit dem er an Vater und Mutter und alle lieben, warmen Verwandtschaft und Zughörigkeit geknüpft ist. Wenn ihr, o Freunde, vom Vaterland redet, so sehe ich den Faden hängen."

Der Aufsatz enthält viele der Ingredienzen, die Hesses Bücher nach dem Weltkrieg prägen: Psychoanalyse, dazu Versatzstücke östlicher Religionen, Pazifismus, strikter Individualismus, Menschheitspathos. Sein Roman "Demian" (1919), den er, um die anvisierte jüngere Leserschaft nicht zu verschrecken, unter dem Pseudonym "Emil Sinclair" herausgab, markiert seine radikale künstlerisch Wende.

Das Bürgersöhnchen Emil Sinclair ist fasziniert vom Gassenjungen Franz Kromer und begeht unter dessen Einfluß mehrere Diebstähle. Danach wird er von Kromer erpreßt. Unter dem Einfluß seines neuen Freundes Max Demian, der halb Menschenführer, halb sein eigenes unterdrücktes Selbst ist, erkennt er die Immanenz des Bösen an und begreift die bürgerliche Moral als Machtinstrument der Mittelmäßigkeit. Damit hat er die Angst vor Kromer überwunden. Der Kriegsausbruch wird für ihn zum Beginn einer großen Katharsis.

Zwar begeisterte auch Hesse sich, wie viele Intellektuelle in dieser Zeit, für Dostojewski, doch mochte er diese Sympahtie nicht auf die russische Oktoberrevolution übertragen. Sein eigener Osten, von dem er sich Heilung für das kranke Europa versprach, lag noch weiter östlich, in Indien. Die Indien-Novelle "Siddharta" (1922) zählt zu den weltweit erfolgreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. "Vor einer LSD-Sitzung solltest Du 'Siddharta' und 'Steppenwolf' lesen", hieß es 1964 in der Psychedelic review. In dem späteren Kultbuch der Hippies geht es um einen reichen Brahmanensohn und um nicht weniger als das Verschmelzen von Einzel- und Weltseele, die Siddharta nach vielen Irrwegen als Yogi und Fährmann an einem großen Fluß erreicht: "Auf seinem blühte die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens ..." usw. usf. Hesse hatte keine Scheu, die höchsten Gedanken in die banalste Sprache zu kleiden.

Besser geriet ihm der Roman "Der Steppenwolf" (1927). Die Hauptfigur Harry Haller ist ein zeitgenössischer Intellektueller, der Mensch und "Wolf" zugleich ist und dem das "Magische Theater" - eine objektivierte, mittels Rauschmittel erzeugte Bewußtseinserweiterung - den Blick in das zersplitterte Selbst eröffnet. Hier hat Hesse sein Verkündigungspathos durch Ironie und Humor ersetzt. Haller lernt seine Zerrissenheit im Zeichen von Goethe und Mozart, die selber als humorerfüllte "Unsterbliche" beschrieben werden, auszuhalten.

Die Bilder vom späten Hesse verschmelzen mit dem Hintergrund seiner Altersvilla "Casa Hesse" in Montagnola hoch über dem Luganer See, die er 1931 zusammen mit seiner dritten Frau, der Kunsthistorikerin Ninon Dolbin, bezog: Eine Burg hoch über dem Getümmel der Welt, die ihm die nötige Sicherheit gab, um jeden Vereinnahmungsversuch zurückzuweisen und sich der Kontemplation zu widmen. Hier entstand sein Hauptwerk "Das Glasperlenspiel" (1943).

Darin zieht er aus der Perspektive des Jahres 2200 eine Bilanz der Gegenwart, des "Feuilletonistischen Zeitalters". Der Erzähler blickt zurück auf eine erschöpfte Kultur, in der die Menschen "von den Kirchen nicht mehr tröstbar, vom Geist unberaten" waren und dieser "eine unerhörte und ihm selber nicht mehr erträgliche Freiheit" genossen hat. Um die Kulturbestände zu bewahren, hat sich in der Provinz Kastalien ein asketischer Orden gebildet, der alle geistigen Errungenschaften sammelt, archiviert und über das ähnlich einer Orgel funktionierende "Glasperlenspiel" miteinander neu in Beziehung setzt. Dieses Verfahren erzeugt interessante Konfigurationen, nur etwas Neues kann es nicht hervorbringen. Damit trennt Kastalien sich vom Leben, wird steril und gerät in Begründungsnot. Die Hauptfigur Josef Knecht nimmt, um auf die Krise aufmerksam zu machen, den Opfertod auf sich. Hesse hat mit dem Roman eine frühe, spielerisch eigenwillige Postmoderne-Theorie vorgelegt.

Der Kreis der Ausstellung schließt sich im Raum "Scherben und Perlen". Auf den mit Lebensweisheiten beschrifteten Plastikkärtchen ist unter anderem zu lesen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar", "Stoppt Friedman!" und "Guildo hat Euch lieb". Jeder der Schreiber hat Hesse auf seine Weise und völlig richtig verstanden. 


 
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