© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Die Helfer des Dionysos
Mit der Geburt des Theaters in der griechischen Antike begann das Medienzeitalter
Günter Zehm

Faszinierend die Ausstellung "Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike", die zur Zeit im Deutschen Theatermuseum in München gezeigt wird. Von den Ausstellungsstücken her eher bescheiden, vermittelt sie durch kluge Arrangements und inspirierte Texte einen einmalig genauen Blick auf das, was Theater an seinem Ursprung war. Man verläßt die Räume in dem Gefühl, einer wichtigen, keineswegs nur historisch belangvollen Sache beigewohnt zu haben.

Es war das Theater, in dem sich die griechischen Polis-Mitglieder des sechsten und fünften Jahrhunderts erstmals als wahre Gemeinschaft zu fühlen begannen, als Volk, welches nicht nur mehr von traditionellen Stammesbanden und vom despotischen Willen eines Königs oder Tyrannen zusammengehalten wurde, sondern durch eigene freie Entscheidung. Erst durch die von ihnen mit allen Fasern des Gefühls und mit allem Einsatz von Reflexion und Selbstreflexion zur Darstellung gebrachte Tragödie wurden die Griechen zur wahren Nation, zur Kulturgemeinschaft, die sich dauerhaft aus besinnungsloser Barbarei herausgearbeitet hatte.

Nichts Beliebiges wurde im Tragödienbetrieb geduldet, alles stand im Dienst des Zusammenhalts der Polis und der gesamthellenischen Nation. Jede, auch die kleinste, fernste Gemeinde, verfügte über ein Amphitheater, und überall wurden alljährlich die gleichen Stücke aufgeführt. Und die Auswahl dieser Stücke, Thema, Stil, Besuchereinlaß - alles unterlag rigoroser Regelung.

Von Anfang an waltete ein gewaltiger kollektiver Formwille. Mitgliedschaft im Chor der Tragödie war Bürgerpflicht und hohes Privileg zugleich. Die Chorsänger mußten für sämtliche Kosten, die ihnen erwuchsen, selber aufkommen, für die Chorhemden, für die Masken (es wurde ausschließlich unter Masken gesungen und rezitiert), für das Honorar, das dem Schöpfer, Regisseur und Vorsänger zustand. Faktisch sämtliche Steuern, die vom Staat erhoben wurden, flossen - außer in die Rüstung und in den Tempelbau - in die alljährlichen Tragödienspiele.

Die Tragödie als erster spezifisch medialer, nämlich bewußt als Maske & Mimesis exekutierter, Sozialprozeß war identisch mit den Anfängen von Demokratie- und Nationbildung. Bloßes Gebet an einen gemeinsamen Gott und bloßes Erzählen der überlieferten Ursprungs- und Heldengeschichten, wie es die alten Barden geübt hatten, reichten dazu nicht aus, sondern Gott und Mythos mußten gespielt, nachgeahmt und maskenhaft vergegenwärtigt werden, damit Parusie von Gemeinschaft geschehen konnte.

Schutzherr und Initiator des Übergangs von Gottesdienst und Rhapsodie zu Theater und Tragödie war aber der rätselhafte Gott Dionysos. Tragödien waren Dionysos-Feste, Hauptbestandteil der "Großen Dionysien", und die Figuren des Satyrspiels, das jede tragische Tetralogie beschloß, waren die aus der Mythologie bekannten Begleiter des Dionysos, eben Satyrn und dazu Silenen, beides Mischwesen aus Mensch und Tier, glatzköpfig, dickärschig, mit aufgerichtetem Phallus - unverkennbar Fruchtbarkeitsgötter, wie ja Dionysos selbst ein Fruchtbarkeitsgott war, freilich ein höchst zwiespältiger, ein Gott gleichzeitig der Zerreißung und der Zerstückelung, der Ekstase, des Rauschs, durchaus auch des Blutrauschs.

Walter Burkert hat daraus abgeleitet, daß tragödialer Chorgesang und Satyrspiel, das feierliche Preisen und das blutrünstige Rasen, lediglich die zwei Seiten ein und derselben Medaille waren, nämlich des Opfers, der religiösen Kulthandlung an sich, in der der tötende, nehmende und fordernde Mensch seine Schuld begleicht, indem er entweder sich selbst oder sein Liebstes und Wertvollstes hingibt, dem Tode preisgibt. Nur so glaubt er, Leben zurückzuerhalten, lebenspendende Ernten einbringen zu können.

Dionysos steht als Ansprechpartner der Opferzeremonie für alle Götter, für das Göttliche überhaupt. Doch in seinem Zeichen wurde das Opfer auch aufgehoben, eben in die Tragödie überführt, die dieses Opfer nur noch spielte, das heißt pantomimisch nachahmte und sprachlich beschwor, maskierte. Die Pointe des Übergangs von der real blutigen Opferzeremonie zur lediglich gemimten Tragödie lag darin, daß die mimetischen Prozesse allmählich ein Übergewicht über die blutigen Rituale der primären Welt erhielten, sie ersetzten, daß also die Maske, das Symbol, zur eigentlich primären Welt wurde. Man kann das auch die Geburt des medialen Zeitalters aus dem Geist des Opfers nennen.

Nie wurde es in diesen medialen Ursprungszeiten gemütlich, nie sank die Mimesis zur bloßen Unterhaltung ab; die Unterhaltung um ihrer selbst willen ist ein sehr später Medien-Effekt. Zur Zeit der großen Tragödien im fünften Jahrhundert blieb alles emphatisch, feierlich, Dienst am Numinosen. Was aber nun hervortrat, war der Geist der Individualität, des eigenen Willens, ja, auch der momentanen Aufsässigkeit gegen die Götter.

Die Götter in den großen Tragödien spenden ja ausschließlich Verhängnis, sie sind einem nicht unbedingt freundlich gesinnt, wie hektisch man ihnen auch Opfer bringen mag, wie strikt gottgemäß man auch leben mag. Der Bann der Schuld, die über uns verhängt ist, bleibt. Doch die Substanz des Menschlichen, unser Stolz, unsere innere Freiheit, kann dadurch nicht zersetzt werden - just dies lehren die großen Tragödien.

Wenn das Böse in uns ist, wenn das Schuldigsein zu unserem Menschsein und zu unserer Stammesgeschichte wesenhaft dazugehört, wie kann es dann, fragt die tragische Logik, durch Opfer und Gehorsam je von uns weggenommen werden? Es zeugt sich fort von Generation zu Generation, die Tragödie illustriert das etwa am Beispiel des berühmten Atridengeschlechts.

Die Atriden stammen von Tantalus ab, der das Wissen der Götter testen und verspotten wollte, indem er ihnen seinen Sohn Pelops ohne Not nicht nur opferte, sondern auch noch gekocht und gebraten zum Dinner vorsetzte. Von daher also datiert die Schuld der Atriden, die fortzeugend Unheil gebiert, dafür verantwortlich ist, daß Agamemnon vorwitzig die Jagdgöttin Artemis zum Wettschießen mit dem Bogen herausfordert, daß er seine Tochter Iphigenie leichtfertig opfert, daß er dann von seiner eigenen Frau Klytämnestra ermordet wird und daß sein Sohn Orest von den Furien gejagt wird.Wer ist hier der eigentliche Täter?

Im Theater an seinem Ursprung - das macht die Münchner Ausstellung überraschend deutlich - manifestiert sich, bei aller Demut, eine Auflehnung gegen die Götter und den von ihnen verhängten Weltlauf, eine Spannung, die sich, Aristoteles zum Trotz, nicht, wenigstens nicht vollständig, in Furcht und Mitleid auflöst. Genau deshalb kam dem Satyrspiel am Ende der Tetralogie eine so große Bedeutung zu. Durch dieses spaßig-grobe, ironisch-lebensbejahende Finale wurde die Welt für die Zuschauer halbwegs wieder ins Gleichgewicht gebracht.

Heutiges Unterhaltungstheater kann daran leider nicht anknüpfen. Bei ihm steht das Satyrspiel von vornherein im Mittelpunkt, je gröber und gemeiner, umso besser. An sich müßte darauf erst die Tragödie folgen, als gespielte - oder als wirkliche.

 

Die Ausstellung ist bis zum 19. September im Münchner Theatermuseum, Galeriestr. 4a, täglich außer montags von 10 bis 16 Uhr zu sehen. Info: 089 / 21 06 91-0, Fax 089 / 21 06 91-91. Das Begleitbuch ist im Verlag Philipp von Zabern erschienen und kostet 18 Euro.


 
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