© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Letzter Hort des Nationalen
Fußball-Weltmeisterschaft: Die Mannschaften verkörpern Nationalstolz und Leidenschaft
Oliver Geldszus

Irgendetwas muß dran sein an der deutschen Nationalmannschaft, die dem ZDF am vergangenen Freitag und am Dienstag dieser Woche zu allgemeiner Arbeitszeit traumhafte Einschaltquoten von bis zu 85 Prozent bescherte. Über 20 Millionen deutscher Haushalte waren am Freitag dabei, als die USA überraschend mühsam auf dem Weg ins WM-Halbfinale niedergerungen wurde. An der Schönheit des Spiels, den eleganten Kombinationen oder durchdachten Spielzügen der Elitekicker kann es nicht gelegen haben.

Es ist eine eigene Dynamik in diesen Tagen zu beobachten, die eine so nie zuvor erlebte Identifikation mit dem Nationalteam hervorruft. Nun waren Fußball-Weltmeisterschaften schon immer, mehr noch als Olympische Spiele oder andere Sportgroßereignisse, auf besondere Art dafür prädestiniert, nationale Gefühle zu kanalisieren. Und natürlich ist der erste deutsche WM-Triumph der "Helden von Bern" unauslöschlich mit dem deutschen Wirtschaftswunder der Nachkriegsära verbunden. Doch was damals vor allem dazu diente, fast zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg einer angeschlagenen Nation wieder Selbstwertgefühl und Anerkennung zu vermitteln, erfüllt ein halbes Jahrhundert später ganz andere Funktionen.

In Zeiten des Verwaschens der gewachsenen Traditionen, der kulturellen Gleichschaltung und der Unterminierung politischer Autonomie fungiert die Fußball-WM als letzter Rückzugsort des Nationalen und bedingt so seinen unverwechselbaren Marktwert. Denn das zeigen die Titelkämpfe in Japan und Südkorea: es gibt ein ungestilltes Bedürfnis weltweit, nationale Emotionen auszuleben. Und das bedient die Weltmeisterschaft mit ihrer einzigartigen, heutzutage fast archaisch anmutenden Zeremonie, zu der das gemeinsame Singen der Nationalhymne, das Hissen der Flagge und der Bundesadler auf breiter Brust unabdingbar dazugehören. Schon lange feuert der Fan nicht mehr in Freizeitkleidung die eigene Mannschaft an. Vor dem Gang ins Stadion steht das Stammesritual an: Überstreifen des Nationaltrikots, Bemalen des Gesichts mit schwarz-rot-gold, Färben der Haare. Bedingungslose Identifikation.

Es ist kein Zufall, daß dieser Trend immer stärker wird und schon jetzt mit dem Fanverhalten früherer Weltmeisterschaften nicht mehr vergleichbar ist. Je weiter die Globalisierung um sich greift und die nationalen Unterschiede negiert und nivelliert, um so größer wird das Verlangen nach Heimat und einem ruhigen Hort inmitten einer immer hektischer werdenden Welt. Und wo die Politik diese Wünsche und Sehnsüchte nicht mehr erfüllen will oder kann, schließt die Fußball-WM mit ihrem traditionellen Brimborium die Lücke. "Der World Cup", so erkannte auch das US-Magazin Time, "ist vielleicht das einzige Medium, in dem nationale Gefühle unverhohlen ausgelebt" werden dürften. Die Nationalteams seien die "elffache Verkörperung von Nationalstolz und Leidenschaft".

Und nur das macht das Turnier letztlich auch so interessant. Im Rahmen perfekt organisierter und durchkalkulierter Spiele ist das Nationale das unverzichtbare Angebot, das erst Quote und Gewinn verspricht. Ungleich mehr, als etwa die als Geldmaschine angepriesene Champions League mit ihren aus aller Welt zusammengewürfelten Mannschaften erreicht. So ist auch der ehrgeizige Plan der FIFA bislang im Sand verlaufen, eine sogenannte "Klub-WM" zu etablieren. Der Markt, so die klare Analyse der Neuen Zürcher Zeitung, "will die Nation".

Die Nation wiederum will ihre Kicker siegen sehen. Die Wechselwirkung zwischen Sport und Politik ist altbekannt und hat immer wieder dazu geführt, Großereignisse zu instrumentalisieren; angefangen bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Mussolinis Italien 1934, über die Berliner Olympiade zwei Jahre später hin zur "WM der Generäle" 1978 in Argentinien. Gerade kleinere Nationen nutzen die plötzliche Chance der Selbstdarstellung auf dem internationalen WM-Parkett. Der senegalesische Staatspräsident fuhr nach jedem Überraschungssieg seines Teams im offenen Wagen durch Dakar, in der rechten Hand einen Fußball wie weiland Karl der Große den Reichsapfel. Jeder Spieltag wurde zum Nationalfeiertag erhoben. Die Türken wiederum wähnen sich nicht nur im Halbfinale, sondern zugleich auch im Kreise EU-tauglicher, zivilisierter Länder. Ohnehin neigen Politiker in Zeiten der Krise dazu, den Glanz fußballerischer Leistungen auf sich selbst zu übertragen. In vorderster Front stürmt dabei Gerhard Schröder, dessen Wahlkampfstrategen allen Ernstes das Gerücht streuen, Rudis Siege unter koreanischer Sonne seien zugleich ein klares Bekenntnis zum deutschen Kanzler.

In der Tat, könnte man jetzt einwerfen, erinnern die oft doch erstaunlich verkrampften und umständlichen Bemühungen der deutschen Stars zuweilen frappierend an die durchschnittlichen Resultate der rot-grünen Bundesregierung. Dennoch gibt es einen Unterschied: Siege feiert Deutschland derzeit nur auf dem grünen Rasen. Die nationale Begeisterung, die sich im Moment um die deutsche Mannschaft hochschaukelt, zeigt nicht nur die politische, ökonomische wie soziale Krise an, von der es sich abzulenken gilt - der Kanzler dabei allen voran. Zugleich ist sie ein weiterer Schritt in Richtung jener Normalität, die das Land nach den psychischen Verwüstungen des Nationalsozialismus noch immer nicht vollständig erreicht hat.

Bislang hatte der Fußball eher nur aufflackernde Höhepunkte gesetzt wie 1954 oder 1990, als der WM-Sieg in Rom auf den deutschen Straßen eine schwarz-rot-goldene Begeisterung auslöst, wie sie nur in der Nacht des 9. November zu erleben gewesen war. Doch es blieb ein ephemeres Ereignis, demgegenüber schon der Vollzug der Deutschen Einheit drei Monate später vergleichsweise nüchtern ausfiel. Erst allmählich, nach zunehmender außenpolitischer Bedeutung und etlichen Bundeswehrauslandseinsätzen an den neuen Brennpunkten der Weltpolitik, hat die nationale Fußballbegeisterung wirklich und scheinbar dauerhafter das ganze Volk erfaßt von Ost bis West, bis hinein in notorisch dem eigenen Deutschsein eher distanzierte Schichten. Eine weitere Etappe der schleppenden Aussöhnung mit der eigenen Geschichte. Ein Prozeß, der mit der Wiedervereinigung vor zwölf Jahren seine natürliche Beschleunigung erlebt hatte und der noch seine quälenden Debatten, Selbstzweifel und Irritationen erleben wird. Die spielerische Leichtigkeit aber, mit der die Deutschen zumindest in diesen WM-Tagen im Mitfiebern mit Rudis Mannschaft ihre eigene nationale Identität annehmen, macht nur der Fußball möglich.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen