© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   27/02 28. Juni 2002


Grenzen dicht
Nationale Interessen geben in der europäischen Ausländerpolitik den Ton an
Peter Lattas

Deutschland geht mal wieder einen Sonderweg. Die illegale Einwanderung auf den Kontinent versetzt Europa in Alarmstimmung; die betroffenen Regierungen liefern sich einen Wettlauf um die effektivste Abwehrstrategie. Derweil bewegt sich der wattierte Berliner Diskurs um ein Zuwanderungsgesetz, das den Hauptakzent auf die Erleichterung des Zutritts auf den deutschen Arbeitsmarkt legt. Der Präsident unterschreibt und rügt die Akteure für ihr intrigantes Theaterspiel beim Zustandekommen des Gesetzes. Letzte Instanz für eine entscheidungsunfähige politische Klasse soll mal wieder das Verfassungsgericht sein.

Die Realitätsferne der deutschen Ausländerpolitik ist einer von vielen Gründen für die faktische Ergebnislosigkeit des EU-Gipfels von Sevilla, der sich die Eindämmung der illegalen Zuwanderung und den besseren Schutz der EU-Außengrenzen als Aufgabe gestellt hatte. Handlungsbedarf besteht: Neben 400.000 Asylbewerbern reisen jährlich 500.000 Illegale in die Europäische Union ein, schätzt Europol. Die Zahlen könnten auch doppelt oder zehnmal so hoch sein. Sind es drei oder fünf Millionen illegale Einwanderer, die bereits in EU-Land leben? Genau weiß das keiner - Illegale lassen sich nun mal nicht registrieren. Das Schleusergeschäft gilt der organisierten Kriminalität inzwischen einträglicher als der Drogenschmuggel.

Das Problem ist nicht neu. Bevölkerungswissenschaftler warnen bereits seit Jahren, daß sich an den spanischen Nordafrika-Enklaven Ceuta und Melilla der weltgrößte Migrationsdruck aufbaut. Ein meterhoher Zaun und eine Drehtür trennen hier Wohlstand und Wüste. Im Monat März wies Spanien über 90.000 Einlaß begehrende Ausländer ab - fünfzigmal so viele wie Österreich.

Kein Wunder also, daß Spanien ebenso wie Italien und Österreich dem Plan des britischen Premiers Blair für die Sevilla-Konferenz sofort zustimmten: Außer der verstärkten Sicherung der Außengrenzen - Tony Blairs Labour-Kabinett erwog gar den Einsatz der Marine gegen Flüchtlingsschiffe und der Luftwaffe zum Rücktransport ungebetener Gäste - und der Schaffung eines gemeinsamen Asylraumes solle man zur Bekämpfung des illegalen Schlepperwesens auch außenpolitische Maßnahmen ergreifen. Will sagen: Finanzielle Sanktionen wie Streichung von Entwicklungshilfe oder Aussetzen begünstigender Abkommen für "kooperationsunwillige" Länder, die Flüchtlinge nicht zurücknehmen oder vollgestopfte Schleuserschiffe tatenlos auslaufen lassen. Gemeint sind zum Beispiel Albanien, Algerien, Marokko oder die Türkei.

Die Vorlage scheiterte am Widerstand aus Luxemburg, Schweden und Chiracs Frankreich. Man mache alles doch nur schlimmer, wenn man den Armen auch noch das Geld wegnehme - als gingen Drittwelt-Regierungen damit so uneigennützig um, wie man sich die Welt gerne zurechtträumt. Deutschland blieb beim passiven Sowohl-als-Auch. Folge: Ein Bündel von Absichtserklärungen über künftig zu formulierende Prinzipien eines koordinierten Rückführungsprogramms und eines gemeinsamen Asyl- und Grenzregimes. Statt durch Sanktionen soll Kooperation bei der Schlepper- und Schleuserbekämpfung durch finanzielle und politische Anreize erreicht werden - eher das Gegenteil also.

Mit Deklamationen ohne direkte Folgen ist es für die meisten wohl auch getan. Das Thema kam ja nicht aus Einsicht in die Notwendigkeit auf die Tagesordnung, sondern als Reaktion auf die Erfolge von "Rechtspopulisten", die in mehreren Ländern mit dem Einwanderungsproblem punkten konnten. Blair wollte den neuen Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen, indem er sich an die Spitze stellte. "Ein Linker in Europa kann nur erfolgreich sein, wenn er rechte Ideen akzeptiert. Das ist die beste Bestätigung für unsere Politik", freut sich da auch Jörg Haider.

Gemeinsame europäische Interessen gibt es aber offenbar nicht. Das führt zum Ausbruch nationaler Animositäten zwischen den Hauptbetroffenen und Ländern, die weiter dem Luxus humanitärer Illusionen und dem Glauben an langfristige politische Lösungen nachhängen. Folglich gibt es auch keine gemeinsame Politik: Europa ist eine Festung ohne Kommandant und Besatzung - auch die gemeinsame Grenzpolizei ist Zukunftsmusik, und Marineeinsätze à la Blair sind wohl eher ein PR-Einfall.

Jeder ist sich selbst der nächste, deshalb ergreifen einige Länder Maßnahmen im Alleingang. Spanien, Italien und Dänemark haben ihre Gesetzgebung drastisch verschärft: Familiennachzug erschweren (Spanien), Sozialleistungen kürzen (Dänemark), Schlepper schwerer bestrafen, Fingerabdrücke nehmen (Italien) lauten die Rezepte. Mitunter entstehen gar bilaterale Konflikte: Schweden beklagt die "unsolidarische" dänische Politik: Dänemark hat seine Asylbewerberzahlen halbiert, Schweden verdoppelt. Zuwanderer aus anderen EU-Ländern, die ihre Scheinehen bisher in Dänemark schlossen, gehen jetzt nach Schweden. Die dänische Volkspartei-Chefin Kjærsgaard kontert: "Wir sollten die Öresund-Brücke hochklappen, wenn die Schweden ihre Städte zu ethnischen Schmelztiegeln machen." Die Ausländerpolitik scheint geeignet, eine Renationalisierung der EU herbeizuführen.

Fraglich ist ohnedies, ob mehr Gemeinsamkeit überhaupt wirksam würde. Was an länderübergreifender Abstimmung bereits gilt, funktioniert ja auch mehr schlecht als recht. Als der Seelenverkäufer "Monica" mit 900 Kurden in Italien landete, kooperierten deutsche und italienische Behörden fabelhaft - trotzdem waren Wochen später zwei Drittel der Flüchtlinge in Deutschland, hundert haben schon Asyl beantragt.

Ohne Ergänzung der internationalen Kooperation durch nationale Maßnahmen geht es demnach nicht. Eine EU-Grenzpolizei kann nationale Kontrollen nicht ersetzen. Auch die Frage, ob die Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum ein Fehler war, darf nicht länger tabu sein. Nur wer nationale Akzente setzt, kann die europäische Debatte beeinflussen.

Um so enttäuschender das Niveau der Debatte in Deutschland. Wäre nicht Wahlkampf, verschliefe man das Problem wohl ohne ein Wort. Echte Alternativen sind nicht auszumachen; was die Union und ihr Kandidat beizutragen haben, liegt an Schärfe und Kontur noch hinter den Positionen des Christdemokraten Aznar oder des Sozialisten Blair. Stoibers Ankündigung, das Zuwanderungsgesetz "kippen" zu wollen, ist wertlos. Mit der in dieser Frage linksliberalen FDP wird er das ideologische Projekt einer Steuerung der Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt, für die angesichts einer "Reserve" von vier Millionen Arbeitslosen kein Bedarf besteht, kaum los. Hier liegt offensichtlich ein reiches Betätigungsfeld für "Rechtspopulisten" auch in Deutschland. Wer wird es nutzen?


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