© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/02 21. Juni 2002

 
Neue Technologien: Embryonenschutz-Gesetz
Wie war das mit der Abtreibung?
Angelika Willig

So manchem Leser der letzten Pankraz-Kolumne dürfte der Schreck noch in den Knochen sitzen. Im Zusammenhang mit dem neuen Embryonenschutz-Gesetz wirft Pankraz den Lebensschützern "Heuchelei" vor. Bei dem Gesetz hatten sie sich weitgehend durchgesetzt und dafür gesorgt, daß Stammzellforschung und -therapie in Deutschland für die nächsten Jahre lahmgelegt sind, so daß Forscher abwandern und die betroffenen Patienten sich überlegen, wie sie legal an die im Ausland auf Stammzellbasis entwickelten Medikamente herankommen können. Es wird sogar gefragt, ob ein Deutscher sich künftig strafbar macht, wenn er im Ausland an Forschungsprojekten dieser Art teilnimmt. Schon in ökonomischer Hinsicht ist die Entscheidung des Bundestags folgenschwer und für Deutschland alles andere als günstig. Damit dürfte Pankraz nur eine unbestreitbare Feststellung getroffen haben.

Begründet wird die Gesetzgebung ausschließlich mit dem Schutz des ungeborenen Lebens. Stammzellen kommen bekanntlich von wenige Tage alten Embryonen, die von künstlichen Befruchtungen übrigbleiben und bei der Stammzellgewinnung zerstört werden. Darüber empören sich die Lebensschützer, die vor allem in der Union, aber auch in anderen Parteien ihren Einfluß geltend machen. Diese Empörung hält Pankraz für Heuchelei. Niemand erwähnt nämlich in der ganzen Diskussion, daß in Deutschland tagtäglich Embryonen zerstört werden - aus Gründen, die sehr viel weniger gewichtig sind als die Behandlung schwerkranker Menschen. Eine Schwangere, die sich durch ein Kind bei Karriere und Freizeitgestaltung belastet fühlen würde, bekommt ohne Probleme ihren "Beratungsschein": Ein mehrere Monate alter Embryo, der bereits differenzierte Organe und die Anlage eines Gehirns hat, wird mit offizieller Erlaubnis abgetrieben. Dazu steht die moralische Strenge gegenüber den Zellen im Blastocystenstadium allerdings in einem Widerspruch, der der Klärung bedarf. Man muß ihn aber nicht gleich mit charakterlicher Schäbigkeit - Heuchelei - erklären.

Die Konservativen erkennen vielmehr erst jetzt, was sie taten, als sie auf Druck der Frauenbewegung widerwillig einer Fristenregelung zustimmten. Sie läuteten eine Entwicklung ein, die durch die Biotechnik energisch weitergetrieben wird. "Was möglich ist, wird auch praktiziert", lautet eine häufige Aussage. Das stimmt nicht. Eine Abtreibung ist technisch schon lange möglich gewesen, wird aber erst massenhaft durchgeführt, seitdem das individuelle Interesse der Frau höher bewertet wird als das allgemeine Interesse der Kirche, des Staates, des Volkes oder einfach der biologischen Art. Die gleiche Bewertung gilt für die Stammzellen. Anstatt neue Menschen zu produzieren, setzen wir auf die Reparatur von Alten und Kranken. Warum? Weil die Alten schon da sind und ihre Interessen laut geltend machen, während die Neuen im Namen der Zukunft vertreten werden müßten. Am Zukunftsglauben scheint es aber auch den Lebensschützern zu fehlen. Sie argumentieren stets nur aus der Defensive heraus und schaffen es höchstens, die Entwicklung zu verzögern.


 
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