© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/02 21. Juni 2002

 
Europa steht vor einer Schicksalswende
Wie man Apokalypsen verhindern kann - Nation, Union, Imperium (Teil III und Schluß)
von Günter Zehm

Die Sehnsucht nach einer wirklichen, nicht durch imperialistische Aufplusterung Einzelner, sondern durch freiwilligen Zusammenschluß zustande kommenden Union zieht eine breite Spur durch die Geistesgeschichte, beginnt schon im alten Rom bei Cicero.

In seinen Reden setzt er sich mit Karneades auseinander, einem Spätsophisten aus der Platonschen Akademie, von dem leider nichts erhalten ist. Dieser Karneades muß vor dem römischen Senat einen Vortrag über Rechtsfragen gehalten haben, in dem er das Recht ganz im nationalen Belieben verschwinden ließ. Es gebe nun mal, so muß er ausgeführt haben, bei den Völkern die mannigfaltigsten Sitten und Rechtsvorstellungen und daraus könne man nur eine Schlußfolgerung ziehen: Alles, was im Staat als Recht ausgegeben werde, sei lediglich Ausfluß von völkischem Egoismus.

Cicero konstatierte demgegenüber mit Leidenschaft ein allen Völkern gleichermaßen eingeborenes Sittengesetz; wer ihm nicht gehorcht, entfremdet sich selbst, weil er damit sein Menschsein verleugnet (mit seinen Worten: "ipse se fugit ac natram hominis"). In jeder nationalen Verfassung müsse sich also das allgemeine Menschenrecht spiegeln, erst dadurch werde jeder Einzelstaat zum ideellen Mitglied eines "Weltstaates der Gerechtigkeit und der Wohlfahrt". Natürlich war dieser Staat, wenn man genauer hinsieht, just der des römischen Imperiums, dem Cicero hier also eine Ideologie lieferte. Doch er betonte ausdrücklich: Nicht nationaler Egoismus, auch nicht der der römischen urbs, sollte dieses Reich regieren, sondern die pax romana, gegründet auf allgemeinem Recht.

Rechtssicherheit und Frieden, mehr hatte dieser Weltstaat nicht zu bieten. An sich ist das nicht wenig, zumal da noch eine ziemlich große Freiheit in Glaubensdingen hinzutrat. Zwar hatte sich jeder Reichsangehörige cäsaristisch zu verhalten, hatte den Kaiser als Gott und oberste Entscheidungsinstanz in allen weltlichen Dingen zu respektieren, doch daneben waren viele Optionen möglich; es gab eine Vielfalt von konkurrierenden Mythen, Religionen, Kulten und philosophischen Schulen. Aber bezeichnenderweise hat gerade diese permissive Vielfalt ein großes Ungenügen bewirkt. Die Dichtung jener Tage ist bis oben hin angefüllt mit Wehklagen über die Nichtigkeit und Eitelkeit der Welt, und die politische Philosophie, am gewaltigsten vertreten durch den christlichen Kirchenvater Augustinus, verdammte das Reich als Teufelswerk und stellte ihm mit aggressiver Attitüde die civitas Dei entgegen, das wahre Reich Gottes, dessen Sachwalter niemand anderer als die römische Kirche sei.

Carl Schmitts Lehre vom "Katechon"

Es war klar, daß ein solches Denken, von den kirchlichen Instanzen allen Ernstes in konkrete Politik umgesetzt, zu schwersten Spannungen zwischen weltlicher Macht und kirchlichem Machtanspruch, zwischen Kaiser und Papst, führen mußte, was ja dann auch geschehen ist. Im Laufe der Auseinandersetzungen kam es auf weltlicher Seite zu jener bemerkenswerten Rechtfertigungstheorie, auf die Carl Schmitt so eindrucksvoll hingewiesen hat: der Lehre vom "Katechon".

Bischof Otto von Freising, der im Auftrag Kaiser Friedrich Barbarossas schrieb, definierte den dieseits der civitas Dei angesiedelten Weltstaat als Katechon, d.h. als Verhinderungsinstanz allergrößten Ausmaßes. Zwar räumte Otto ein, daß die civitas Dei in Sachen moralischer Reinheit und Perfektion dem weltlichen Universalreich überlegen sei, und natürlich werde die civitas Dei auch das letzte Wort behalten, es würde Apokalypse und weltlichen Untergang geben. Aber - und dieses "Aber" hatte es in sich - solange das Reich des Kaisers blühe und gedeihe, habe es mit der Apokalypse noch gute Weile, und das sei auch gut so, denn schließlich müsse der Mensch auf Erden Zeit finden, sich auf das Jenseits ordentlich vorzubereiten.

Das weltliche Universalreich als Weltuntergangs-Verhinderungsinstanz - diese Sichtweise zog sich von da ab wie ein roter Faden durch die Reichsrechtfertigungs-Literatur der kaiserlichen Kanzleien. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation versprach seinen Bewohnern nicht nur Frieden und Rechtssicherheit, sondern auch den Fortbestand der schlichten, vertrauten und letzten Endes gemütlichen menschlichen Lebenswelt. Im Gegensatz zur civitas Dei, aber auch zu allen modernen kommunistischen oder nationalsozialistischen Reichsutopien hat sich das sozusagen offizielle Reich der Deutschen niemals als "kommendes" Reich empfohlen, nie hat es versucht, dem lieben Gott gewissermaßen ein Schnippchen zu schlagen und das Paradies mit Hilfe einiger Tricks bereits hinnieden zu etablieren. Im Gegenteil, stets waltete ein äußerst realistischer, scharf antiutopischer Affekt, eine sachliche Vorliebe für die Forderungen des Tages, die sich allen Überspanntheiten und Träumen entschieden widersetzte.

Andererseits gab sich das Reich nie so diesseitig wie die amerikanische Verfassung, die die USA (und einen nach dem Vorbild der USA errichteten künftigen Weltstaat) zu einem gleichsam leeren Raum erklärt, in dem jeder seinen ganz und gar privaten pursuit of happiness unterbringen könne. Das Reich spendete Schutz und Wärme, aber es forderte auch. Der einzelne hatte auf einem dauerhaft zugewiesenen Platz seine Pflichten zu erfüllen, und sein Leben stand unterm Kreuz des Christentums, dessen transzendente Kraft ihn einhüllte und ihm dadurch erst seine Menschenwürde sicherte.

Man kann das feudalistisch und vormodern nennen, festzuhalten bleibt immerhin, daß sich die Zugehörigkeit zum Reich allein dem Platz unterm Kreuz verdankte. Es gab grundsätzlich keine weltlichen Privilegien nach irgendeiner Richtung, die diversen Nationen und Regierungen sollten aber keineswegs eingeebnet oder auch nur in ihrem Eigenleben behindert werden. Das Reich war seinem angestrebten Idealzustand nach ein in Sittlichkeit und Religiosität geeinter Nationenbund, ein Europa der Vaterländer, wenn man will, in dem sich Nationalinteressen und Unionsinteressen, Reichsinteressen, vernünftigerweise die Waage hielten.

Parallelen zur Gegenwart sind hier durchaus erlaubt. Kein wie auch immer zusammengezwungenes Imperium wird unter den modernen Bedingungen eine Chance haben, aber der Staatenbund als Katechon, als Apokalypse-Verhinderungsinstanz und Bollwerk der Vielfalt und der sachlichen Frömmigkeit, ist ein attraktives Projekt, nicht zuletzt für Europa in seiner sich anbahnenden Auseinandersetzung einerseits mit dem amerikanischen Konsum- und Gleichmacher-Imperialismus, andererseits mit der islamischen Gottesstaatsdiktatur.

Derzeit haben wir in Sachen Europa auf der einen Seite riesige bürokratische Apparate, die sich jeder ordentlichen parlamentarischen Kontrolle entziehen und deren Vereinheitlichungen nur begrenzt vernünftig, meistens aber überkünstlich, verschroben und hemmend sind, und auf der anderen, was die geistige, die wahre Einheit betrifft, diffuse, gutgemeinte Absichtserklärungen, die nur allzu oft in pures Geschwätz einmünden.

Wo liegt der geistige Ankerpunkt Europas?

Wo könnte denn auch der geistige Ankerpunkt des politischen Europas liegen, wenn nicht im Katechon? Das Christentum als solches steht hierfür nicht mehr zur Verfügung. Und die seit den fünfziger Jahren oft beschworene, später manchmal auch verspottete, "abendländische Wertegemeinschaft", also jener Kanon aus leicht säkularisierten christlichen Werten, den modernen Ideen der Freiheit und der Menschenrechte und einer liberalen, marktorientierten Wirtschaftsverfassung, hat viel von ihrer Bindekraft verloren, seitdem ihr mit dem Kommunismus das Feindbild, der Gegenwurf, abhandengekommen ist.

Dabei stehen nun nicht nur die einzelnen europäischen Nationen, sondern der ganze Kontinent vor einer Herausforderung ersten Ranges, vor einer Schicksalswende, wie sie seit tausend Jahren nicht mehr vorgekommen ist; gemeint ist die neue Völkerwanderung, die sich anbahnt. Ihr Ziel sind diesmal nicht, oder nur scheinbar, bestimmte privilegierte Plätze in Europa, sondern Europa insgesamt. Einlaßbegehrende, pauperisierte Massen aus den Tiefen Eurasiens, aus Afrika und aus dem Nahen Osten stehen vor der Tür, keine Eliten, die sich elegant in den örtlichen Arbeits- und Lebensprozeß einfügen und ihn damit sogar bereichern würden, sondern schlecht ausgebildete Unterschichten, die zunächst einmal und für eine ganze Weile zu Kostgängern des Systems werden.

Der Prozeß aber ist elementar, und wenn man seine Linien in die Zukunft auszieht, ergibt sich das Bild eines völlig veränderten, eines gleichsam enteuropäisierten Kontinents. Wir erhalten dieselbe Konstellation wie die für Amerika diagnostizierte (JF 24/02). Die Einwandernden kommen nicht, um sich dem europäisch-abendländischen Kulturkanon einzufügen, sondern um ihren eigenen autochthonen Kanon in das neue Gebiet einzupflanzen, und zwar nicht etwa nur in Form einiger exotischer Restaurants oder Boutiquen, sondern in Form von Rechtsordnungen, Schul- und Erziehungsformen, grundstürzend neuen Formen beim Umgang zwischen Frau und Mann, Alter und Jugend, Gesunden und Kranken, Armen und Reichen. Gezielt wird nicht auf eine transnationale Union, sondern auf die sogenannte Multikulturalität, ein Wort übrigens, das nur zu Polemik und Verwirrung taugt.

Die betroffenen europäischen Regierungen und die mit ihnen verbündeten Medien glauben, der Lage offenbar mit Toleranzpredigten beikommen zu können. Doch schon die oberflächlichste geschichtliche Erfahrung lehrt, daß das Ineinanderverzahntsein von assimilierungsunwilligen Volksgruppen auf engstem Raum, wie er in Europa nun einmal gegeben ist, nur Zündstoff liefert, der immer wieder zu Explosionen führt. Die ersehnte Toleranz kommt so gerade nicht zustande, im Gegenteil, es wird Haß erzeugt oder ein resignativer Relativismus, der schließlich jedes kraftvolle, Strukturen bildende Leben zerstört.

Noch einmal sei hier Kurt Hübner zitiert: "Ein lebendiges, durch innere Bindekräfte geprägtes, seine Mannigfaltigkeiten tolerierendes und bewahrendes Europa kann nie ein multikulturelles sein, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es von jenen gemeint ist, die mit diesem Schlagwort Politik zu machen versuchen und das Ende der Nationen und des Nationalstaats verkünden. Letztlich geht die Forderung nach einer multikulturellen Gesellschaft nur darauf zurück, daß man in einer Art leerlaufendem Räsonnement seine eigenen Wurzeln verloren hat und Kultur gar nicht mehr als eine Weise des Lebens, sondern nur noch des intellektuellen Spiels betrachtet. Die Toleranz, welche dieses Spiel verbreitet, ist daher im Grunde nur diejenige der Gleichgültigkeit."

Und weiter Hübner: "Wirkliche Toleranz des Lebens beruht demgegenüber auf der Duldung des anderen in der Erkenntnis, daß die Tiefe der Bewährung des Eigenen nur in der Auseinandersetzung mit ihm wahrhaft erfaßt wird und beider Recht die notwendige Voraussetzung dafür ist. Nur diese Art von Toleranz bewahrt die substanzielle Existenz und Eigenständigkeit derer, die sie pflegen. Eine Eigenständigkeit, die sich nur auf das sogenannte kritische Bewußtsein stützte, verdiente den Namen nicht, im Gegenteil, sie wäre nichts anderes als der Grashalm im Wind."

Gegen die Blasiertheit freiwilliger Verlierer

Hinzuzufügen bliebe, daß der von Hübner verdammte Zustand der Gleichgültigkeit durchaus einen Sinn machen kann, einen fatalen freilich: Es ist der typische Zustand des Verlierers. Wer eine Partie verloren gibt, der wappnet sich am besten mit Gleichgültigkeit. Er gewinnt dann eine Position au-dessus-de-la-melée, über dem Getümmel, das er mit dem Desinteresse des blasierten, hyperkritischen Weltmannes betrachten kann, um daran zwar unverbindliche, aber geistreiche Bemerkungen zu knüpfen. Im alten Rom zur Zeit der Völkerwanderung hat es solche blasierten Äußerungen zuhauf gegeben, bei Claudanus oder Ausonius etwa, die von der prinzipiellen Überlegenheit und Jugendkraft der Barbaren überzeugt waren und sich mit dem Untergang der eigenen Civitas von vornherein abgefunden hatten.

Es ist möglich, daß auch heute in Europa so mancher Aufruf zur Toleranz oder gar zum sofortigen Platzmachen auf jener Blasiertheit freiwilliger Verlierer beruht, die von der eigenen Kultur nur noch angeödet werden und sich im Stile des Ausonius eine "Blutauffrischung" durch einwandernde Ethnien erhoffen. Der allgemeine Standpunkt ist das jedoch nicht, und es ist auch kein verallgemeinerbarer. Durchschnittlich aufgeweckte und nachdenkliche Zeitgenossen sehen sehr wohl noch Chancen für die eigene Nation und für Europa insgesamt, und sie möchten diese Chancen wahrgenommen wissen, möchten Strategien dafür entwickelt sehen. Der Staatenbund als Katechon ist eine solche Strategie.

 

Bildtext: Cicero spricht vor dem Senat in Rom (63 v. Chr.): Wer dem allen Völkern eingeborenen Sittengesetz nicht gehorcht, entfremdet sich selbst

Bildtext: Krönung Friedrich Barbarossa 1153 im Aachener Dom: Das Reich spendete Schutz und Wärme

 

Prof. Dr. Günter Zehm, Jahrgang 1933, lehrt Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.


 
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