© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/02 21. Juni 2002

 
Partikel der Geschwindigkeit
Hermetischer Kosmos: Peter de Mendelssohns Roman über das Berlin der "Goldenen Zwanziger"
Doris Neujahr

W er nach 50 Seiten einfach aufhören kann, in Peter de Mendelssohns neuaufgelegtem Roman weiterhin nach großer Literatur zu fahnden, und ihn als historisches und soziologisches Originaldokument liest, kommt bei der Lektüre allemal auf seine Kosten. Mendelssohn war, als sein Buch 1930 in der Reclam-Reihe "Junge Deutsche" erstmals erschien, gerade 22 Jahre alt. Die Geschichte des jungen Oswald Laengfeldt, den es nach dem Abitur in einem bayerischen Internat nach Berlin zieht, um dort als Feuilletonredakteur bei einer Tageszeitung zu arbeiten, entspricht weitgehend seiner eigenen.

Ein Buch der ausgehenden "Goldenen Zwanziger" also, als deren signifikanten Neuerungen die moderne Reizüberflutung, Beschleunigung und Technisierung sowie die verwirrende Unbeständigkeit aller Lebensbereiche empfunden wurden. Die Metropole Berlin war das Zentrum dieser neuen Atemlosigkeit und das hauptstädtische Pressewesen - es gab hier mehr als 50 Tageszeitungen - ihr angemessenster Ausdruck.

Mendelssohns Figuren sind selber zu Partikeln der Geschwindigkeit geworden. Sie klagen nicht darüber, sondern ziehen ganz unverblümt einen Genuß aus der Tatsache, daß ihr Privat- und Berufsleben sich im neuen Rhythmus bewegt und sie sich darin der Elterngeneration überlegen fühlen können, die durch Krieg, Revolution und Inflation ohnehin aus der Bahn geworfen und widerlegt worden ist.

Das Buch ist die erstaunliche Talentprobe eines Frühreifen, die aber eher journalistischer als schriftstellerischer Natur ist. Es gibt scharf beobachtete Szenen, treffgenau geschilderte Stimmungen und einen bemühten urbanen Erzählton, der streckenweise sogar überzeugt. Andererseits bildet die Szenerie des Romans einen hermetischen Kosmos, der an die selbstreferentielle Erzählwelt aktueller Popliteratur erinnert.

Man trifft sich im "Romanischen Café" an der Gedächtniskirche, einem bedeutenden Literatentreff jener Jahre, was allerdings nur für Leser erkennbar ist, die über entsprechende lokal- und literaturgeschichtliche Vorkenntnisse verfügen. Die exemplarische Bedeutung des Hauses wird im Text nicht annähernd entwickelt, sein Name wird so eitel hingeworfen wie heute die teuren Modemarken im Pausengespräch auf dem Schulhof.

Die Außenwelt, von der die Figuren so altklug reden, ist nur als Resonanzraum für das eigene Ich von Interesse. Was künstlerisch ja akzeptabel wäre, wenn die Figuren: also Ruth, Ellen, Franziska, Manfred und Konstantin und auch der Oswald, irgendwie interessante oder belangvolle Charaktere darstellten.

Doch zwischen Selbst- und Außenwahrnehmung klafft ein Abgrund, den der Autor nicht thematisiert hat, der ihm nicht einmal bewußt zu sein scheint. Wenn Oswald zum Schluß von Berlin nach Rom abreist, aus der flüchtigen "Hauptstadt der Moderne" in die "Ewige Stadt", dann ist dieser als bedeutungsschwer suggerierte Ortswechsel nichts weiter als eine neue kapriziöse Laune.

Kein Schimmer davon, daß gerade die Weltwirtschaftskrise ausgebrochen ist und eine unsagbare Verelendung und Gereiztheit unter jungen Menschen begonnen hat, die die Weimarer Republik zerstören wird. Diesen Zusammenhang haben andere junge Autoren wie Anna Seghers bereits damals klar erkannt.

Bei Mendelssohn ist noch die Geldnot eine letztlich heitere Angelegenheit, weil sie den Lebenskünstlern und Bohemiens einen zusätzlichen Kick verleiht, und unausgesprochen ist da immer das Gefühl, daß man schließlich auf eine letzte Reserve zurückgreifen kann. In Wahrheit sind die jungen Leute trotz ihrer rebellischen Posen Vaterkinder geblieben und erhalten in der Stunde höchster Not den rettenden Scheck.

Das Buch wäre weiter nicht von Interesse, wenn es nicht authentische Einblicke in die äußere und innere Lebenswelt jener jungen Intellektuellen eröffnete, die sich als die liberale Nachwuchselite der Weimarer Republik empfand und als solche heute posthum hofiert wird. Peter de Mendelssohn war Sohn eines Goldschmieds aus der Künstlersiedlung Hellerau bei Dresden und mit Klaus Mann, dem 1906 geborenen, bekanntesten und im Roman auch explizit erwähnten Vertreter dieser Generation, eng befreundet. Mann hatte zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine ganze Reihe ähnlich gearteter Bücher veröffentlicht, die hinter dem von Mendelssohn erreichten Niveau allerdings zurückbleiben. Gleich nach dem Erscheinen von "Fertig mit Berlin?" schrieb er Mendelssohn einen begeisterten Brief, "weil ich so viel von dem Leben wiedererkannt habe, das doch schließlich, bis zu einem gewissen Grade, auch meines in Berlin gewesen ist (...)."

Das wirft die Frage auf, ob es historisch überhaupt angemessen ist, Mann, Mendelssohn & Co. als positive Gegenbeispiele oder auch nur als Seismographen einer im übrigen irregegangenen deutschen Jugend zu betrachten. Viel kompetenter als die beiden Jungautoren hatte der 25 Jahre ältere Stefan Zweig die Stimmung unter den jungen Menschen in Deutschland erfaßt, als er, nachdem die NSDAP bei den Septemberwahlen 1930 zur stärksten Partei aufgestiegen war, diesen Wahlsieg als eine verzweifelte "Rebellion der Jugend" deutete. Was wiederum Klaus Mann zu einem "Offenen Brief" an Zweig veranlaßte, in welchem er mit großer Geste erklärte: "Es ist also so, daß ich meine eigene Generation vor ihnen preisgebe; oder wenigstens den Teil der Generation, den Sie gerade entschuldigen. Zwischen uns und denen ist keine Verbindung möglich (...)"

Wer aber waren diejenigen, für die Klaus Mann zu sprechen vorgab? Eine schmale Schicht neunmalkluger, privilegierter und verzärtelter Narzisse, die vom Leben der Altersgenossen keine Ahnung hatte und sich diese auch gar nicht verschaffen wollte. Das war schließlich einer der Gründe, daß 1933 ihr Gang ins Exil von kaum jemand bemerkt oder für wichtig genommen wurde und das Lesepublikum Mendelssohns wichtigtuerische Frage "Fertig mit Berlin?" bisher viel zu unerheblich fand, um darauf eine Antwort zu geben.

Peter de Mendelssohn schrieb im Exil eine Anzahl weiterer Romane, die allesamt vergessen sind. 1945 kam er als englischer Presseoffizier zurück nach Deutschland, wo er 1982 starb. Er schrieb eine umfangreiche, kluge, leider unvollendet gebliebene Thomas-Mann-Biographie und amtierte als Präsident der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung.

In diesem Amt duldete er es, daß Hermann Kesten - ebenfalls ein emigrierter Nachwuchsliterat der Weimarer Republik - seine schon legendäre Verleumdungskampagne gegen Uwe Johnson (dem er 1961 den nachweislich falschen Vorwurf gemacht hatte, in öffentlicher Rede den Mauerbau gepriesen zu haben) noch 20 Jahre später in einem offiziellen Dokument der Akademie fortsetzen konnte, was Johnson tief verbitterte.

Sein jetzt vorbildlich edierter Jugendroman macht Mendelssohns merkwürdiges Verhalten gegenüber Johnson als tiefsitzendes Ressentiment gegenüber einem ähnlich Frühreifen, aber ungleich Begabteren psychologisch plausibel.

 

Peter de Mendelssohn: "Fertig mit Berlin?". Roman. Mit einem Nachwort von Katharina Rutschky. Elfenbein Verlag, Berlin 2002, 343 Seiten, geb., 19 Euro


 
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