© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Die Staaten sind keine Warenhäuser
Von der Marktwirtschaft zur Schicksalsgemeinschaft - Nation, Union, Imperium (Teil II)
von Günter Zehm

Es geht im politischen Raum niemals nur um Wirtschafts- und Sozialstrukturen, sondern nicht minder um Nationalstrukturen, die sehr viel schwerer rationalisierbar sind als Wohlstandsverteilung und Gesellschaftsvertrag, demokratisches Verfahren und sozialer Ausgleich. Die herkömmliche, herrschende Politologie hat angesichts dieses "Irrationalismus" von vornherein kapituliert, das heißt sie hat das nationale Moment einfach aus ihren Überlegungen ausgeblendet, es ist für sie definitiv nicht vorhanden, ein blinder Fleck. Das ging schon mit Max Weber (1864-1920) los, der sich einerseits leidenschaftlich für nationale Politik interessierte, andererseits sich überhaupt nicht auf eine wissenschaftliche Erörterung des Nationalbegriffs einlassen wollte. In seinem bekannten Vortrag über "Wirtschaft und Gesellschaft" hat er seine diesbezügliche Ratlosigkeit ausführlich aufgelistet.

Man kann, so philosophierte er in diesem Vortrag öffentlich, den Begriff der Nation nicht definieren, weil es zu jedem vorgetragenen Wesensmerkmal sofort Gegenbeispiele gibt. Wollte man die Nation als Sprachgemeinschaft definieren, was wäre da mit den Engländern und den Iren, oder den Kroaten und den Serben, die zwar die gleiche Sprache sprächen, sich aber unter gar keinen Umständen als gemeinsame Nation betrachten wollten, während sich andererseits die Schweizer trotz verschiedener Sprachen sehr wohl als einheitliche Nation begriffen? Ganz verzweifelt stehe es mit dem Kriterium der ethnischen, rassischen oder biologischen (wir würden heute sagen: genetischen) Gemeinsamkeiten; solche Gemeinsamkeiten seien nur allzu oft bloß eingebildet, während es in der Geschichte oft vorgekommen sei, daß sich ethnisch sehr unterschiedliche Gruppen zu einer Nation zusammenschlössen; Weber bringt dafür das nicht ganz überzeugende Beispiel von den zwölf Stämmen Israels.

Eine Nation, die keine sein will, gibt es nicht

Manchmal ist die Religion nationbestimmend, manchmal spielt sie überhaupt keine Rolle. Am überzeugendsten erscheinen Weber noch "gemeinsame politische Schicksale, d.h. in erster Linie Kämpfe auf Leben und Tod, denn sie knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker wirken als Bande der Kultur, Sprach- und Abstammungsgemeinschaft. Sie sind es, welche dem Nationalbewußtsein erst die letzte, entscheidende Note geben. Dennoch fehlt es auch diesen Konstituenten" (so immer noch Weber) "an einer in scharfen Begriffen faßbaren Klarheit. Was zum Beispiel bedeutet eigentlich eine 'Kulturgemeinschaft'? Ist etwa die Literatur nicht allzu oft nur das Gut einer geistigen Elite, woran die breiten Volksschichten gar nicht teilhaben? Welche Kulturgüter spielen hier die entscheidende Rolle? Wenn man es überhaupt zweckmäßig findet, ein Nationalgefühl als etwas Einheitliches, spezifisch Gesondertes zu unterscheiden, so kann man das nur durch Bezugnahme auf eine Tendenz zum eigenen Staat und muß sich dann klar sein, daß darüber sehr heterogen geartete und verursachte Gemeinschaftsgefühle zusammengefaßt werden."

Soweit Max Weber. Als einzig sicheres Kriterium läßt er also eine Willenserklärung stehen, und das ist freilich treffend. Eine Nation, die keine sein will, gibt es nicht, mit der einzigen Ausnahme vielleicht der Deutschen, bei denen zumindest große Teile der politischen Klasse und vor allem die sogenannten Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen nationalistischen Protuberanzen tatsächlich der eigenen Nation öffentlich abgeschworen hatten. Aber selbst hier wurden diese Kräfte von unten spontan konterkariert. Während der Wende 1989 changierte die dominierende Parole auf den großen Demonstrationen unversehens von der Version "Wir sind das Volk" zur Version "Wir sind ein Volk", und in den anschließenden Wahlen spielten selbst in der alten Bundesrepublik plötzlich wieder nationale Gefühle eine beträchtliche, wenn nicht die entscheidende Rolle.

Die politische Philosophie hat sich angesichts dieses Phänomens wie auch angesichts der Rückkehr des nationalen Prinzips in den ehemals kommunistischen Staaten in geradezu skandalöser Weise als völlig hilflos erwiesen. Faktisch gab es damals in ganz Deutschland nur einen einzigen Philosophen, der das nationale Prinzip in sein Nachdenken einbezog: Kurt Hübner in Kiel, bekannt geworden durch die beiden Werke "Kritik der wissenschaftlichen Vernunft" und "Die Wahrheit des Mythos". In seinem Buch "Das Nationale" (Köln 1993) bietet er nicht nur einen ausführlichen historischen Überblick über das Erscheinen des nationalen Prinzips in der Philosophie von Aristoteles bis Nietzsche, sondern versucht auch - gestützt auf Montesquieus Theorie vom esprit général und auf die deutsche romantische Staatsphilosophie - eine eigene wissenschaftliche Artikulation.

Charles Montesquieu (1689-1755) schrieb in seinem Hauptwerk "Vom Geist der Gesetze": "Mehrere Dinge bestimmen die Menschen: das Klima, die Religion, die Gesetze, die Grundsätze der Regierung, die Beispiele der Vergangenheit, die Sitten, die Verhaltensweise; hieraus bildet sich als Resultat ein allgemeiner Geist" - esprit général. Die deutschen Romantiker dann, vor allem Adam Müller in seinen "Elementen der Staatskunst", haben diesen Montesquieuschen Ansatz aufgegriffen und ihn entschieden gegen die "Theorie des Egoismus" gewendet, die in der Staatsphilosophie der Aufklärung dominierte.

Sie wiesen darauf hin, daß es nie und nimmer genügen könne, den esprit général ausschließlich als eine, wie Müller sagt, "bloße Assekuranz, als eine merkantile Societät des wohlverstandenen Eigennutzes" hinzustellen, wie das beispielsweise Adam Smith getan habe. Der esprit général sei mindestens ebenso sehr "Schicksalsgemeinschaft" wie merkantile Societät. Das Leben und die Erfahrung der Gemeinschaft bestünden nicht nur aus der Wahrnehmung von Interessen, wie bei Adam Smith, sondern aus dem gemeinschaftlichen Erleben selbst. Die Nation nun aber sei die "entwickelte", Familie, Stamm, Sprache und Territorium übersteigende Erfahrungsform der Gemeinschaft, gleichsam ihr Markt.

Das Verdrängte tritt oft in bizarrer Weise hervor

An diese originelle "Nationalökonomie" knüpft Hübner an. Wie für Weber ist die Nation auch für ihn Wille, "ständiges Plebiszit", wie Ernest Renan das genannt hat. Aber sie ist ebenso sehr Schicksalsgemeinschaft. "Der Mensch", schreibt Hübner, "wird mit seiner Muttersprache, seiner Kindheit und Jugend, die ihn unauslöschlich prägen, in eine Nation hineingeboren, gleichgültig, ob es sich um diejenige eines homogenen Staates oder eines Vielvölkerstaates handelt. Seine schicksalhafte Identifizierung kann mehrere Schichten aufweisen, aber selbst in den Fällen, wo man seine nationale Zugehörigkeit wechselt, bleibt die schicksalhafte Verknüpfung mit dem Ursprung unaufhebbar, wird die neue Identifikation, die sich dann gewissermaßen darüberschiebt, als schicksalhafte Bindung empfunden."

Und weiter Hübner: "Die anthropologisch begründete, schicksalhafte Verknüpfung der Menschen mit einer Nation ist so stark, daß sie großes Leid auf sich zu nehmen bereit sind, ehe sie den Staat verlassen, wo ihre Heimat liegt. Die Vorstellung moderner Aufklärungsphilosophen, es sei schließlich die Verfassung eines Landes, die ihnen die Treue zu ihm eingibt (der sogenannte Verfassungspatriotismus) ist wirklichkeitsfremd. Wegen besserer Verfassungen anderswo verläßt man nicht leichten Herzens seine Heimat. Die Staaten sind keine Warenhäuser, die auf Kunden warten."

Die tiefe Bindung an die Nation bleibt nicht selten unbewußt, ja, sie kann weitgehend verdrängt werden, wie wir das in Deutschland sehr intensiv erfahren haben und immer noch erfahren. Ganz verschwinden kann sie jedoch ebensowenig, wie niemand seine ursprüngliche Herkunft verleugnen kann, die ihn trotz aller Wandlungen und neuen Erfahrungen sein Leben lang prägt. Im Zustand der Verdrängung tritt das verdrängte oft in bizarrer Weise wieder in Erscheinung, zum Beispiel im Sport. Man kann da sehr gut beobachten, daß das nationale Bewußtsein latent stets vorhanden ist und gerade als Reaktion auf Verdrängung oder gar Unterdrückung in einer mitunter schon gefährlichen Weise explodiert.

Freilich wird es auch immer Menschen geben, denen die innere Erfahrung ihrer nationalen Zugehörigkeit fast völlig fehlt, die sie also nicht durch besondere Umstände verdrängt, sondern durch eine bestimmte Ideologie verschüttet haben. Gegen die allgemeine anthropologische Bestimmung der nationalen Zugehörigkeit ist damit ebensowenig gesagt, wie aus dem völligen Erlöschen des Geschlechtstriebs bei einigen Menschen nicht auf die mangelnde konstitutive Bedeutung dieses Triebes für die Gattung Mensch geschlossen werden kann.

Natürlich kann das nationale Prinzip regelrecht pervertieren, indem es sich selber zu einer Art Unionsprinzip aufplustert, indem es gierig wird auf Imperium. Das ist dann die Stunde des Nationalismus und des Chauvinismus, eine dunkle Stunde, vor der sich jede Nation fürchten muß. Daß die nationalistische Pervertierung aber nicht notwendig zum nationalen Prinzip gehört, bezeugen bereits seine Ursprungstheoretiker. Weder Montesquieu noch die Mehrheit der romantisch-volklichen deutschen Poeten und Staatstheoretiker waren Nationalisten, ganz im Gegenteil. Von Anfang an wurden National- und Universalstandpunkt zusammengedacht; man denke nur an Novalis. Von Anfang an hieß es, daß die eigene Schicksals-, Sprach- und Kulturgemeinschaft nur im Verbund und im Vergleich mit anderen blühen und gedeihen könne, daß es einen edlen Wettstreit zu führen gelte, der nicht in der Ausschaltung oder Unterjochung der anderen Gemeinschaft gipfeln dürfe, sondern nur in der immer kräftigeren Ausfaltung der miteinander konkurrierenden Gemeinschaften. Diese Überzeugung waltete zum Beispiel bei Herder in einem solchen Maße, daß er es war, der die Völker des Ostens erst einmal auf ihre nationalen Schätze aufmerksam machte.

Erste Übertreibungen traten bei Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) zutage, besonders in seinen Reden an die deutsche Nation (denen man freilich zugute halten muß, daß sie in einem besetzten Land gehalten wurden, mit unübersehbarer Spitze gegen den ausländischen Usurpator). Die germanischen Sprachen, so Fichte, seien "ursprüngliche" Sprachen, im Gegensatz zu den romanischen, speziell der französischen, die abgeleitet seien, nämlich aus lateinischen Soldatensprachen entwickelt. Die Geschichte der romanischen Sprachen beruhe folglich auf einer Entfremdung vom göttlichen Urquell des nationalen Lebens, die Kontinuität der Nationalerfahrung sei verloren gegangen. Eine nicht "ursprüngliche" Sprache könne zwar geistreich sein, doch mangle es ihr an echtem Geist; das Gemüt verflache unter ihrem Einfluß, Ernst und Gründlichkeit gingen verloren.

Hier haben wir schon das volle Klischee des deutschen Nationalismus gegenüber "welscher" Oberflächlichkeit und "welschem" Unernst. Dabei bedarf es gar keines großen Geistes- und Forschungsaufwands, um einzusehen, daß aus einem Gemisch verschiedener Sprachen durchaus eine neue entstehen kann, die eine nicht nur neue, sondern auch höchst eigenständige Kultur hervorzubringen vermag. Der Gedanke liegt sogar nahe, daß solche Vermischungsprozesse oftmals geradezu notwendig sind, um neue geistige Horizonte in den Blick zu bekommen.

Niemand sollte freiwillig verstummen

Ähnliche überhebliche Abgrenzungen wie bei Fichte hat es selbstverständlich auch anderswo gegeben, in Frankreich etwa bei Fustel de Coulange oder Jules Michelet, die das französische Denken, seine angebliche clarté, für den Maßstab aller Vernunft erklärten. Thomas Jefferson pries die Amerikaner, wie bereits erwähnt, als "Gods own nation", Adam Mickiewicz hielt die Polen für "das Lieblingsvolk Gottes", Giuseppe Mazzini die Italiener für "die Seele der Welt"; die russischen Panslawisten (und nicht nur sie) gingen ohne weiteres davon aus, daß Rußland eine welterlösende Funktion habe und zunächst einmal die slawischen Brüder vor der Verödung durch den westlichen Geist bewahren müsse.

Nur mit Trauer kann man diese Äußerungen so vieler kluger Männer zur Kenntnis nehmen. Man sieht in ihnen wie in einem Spiegel, daß die Völker Europas im Zeitalter des anbrechenden Imperialismus mehr und mehr auseinandertrieben, daß sie ein nur noch borniertes, hypertrophes Eigenbewußtsein hegten. Im Grunde war dieser Nationalismus eben reiner Imperialismus, der das Wesen der Nation, die Einheit in der Vielfalt, regelrecht verriet. Es ist mit den nationalen Ideologien nicht anders als mit den nationalen Märkten: Indem sie sich linear auf die ganze Welt ausdehnen wollen, schotten sie sich gerade gegen den Rest der Welt ab; indem der wirtschaftliche und geistige Dynamismus scheinbar seinem Höhepunkt zustrebt, wird er in Wirklichkeit stockig und muffig, er verdummt freiwillig, wie Nietzsche es genannt hat.

Angesichts solcher Einmündungen kann man schon verstehen, daß das nationale Prinzip als solches von manchen als Verhängnis empfunden wurde, als Gegenwurf zu allem Menschlichen und Vernünftigen, und zwar schon sehr früh in der Geistesgeschichte.

 

Den dritten und abschließenden Teil lesen Sie nächste Woche in der JF 26/02.


 
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