© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Eine Wand des Schweigens
Kino: "Gosford Park" von Robert Altmann zeigt eine untergegangene Welt
Werner Olles

November 1932 in einer der weitläufigen Grafschaften Mittelenglands: Sir William McCordle und Lady Sylvia erwarten eine feudale Jagdgesellschaft zum Wochenende auf Gosford Park. Neben Sylvias Tante und weiteren höchst angesehenen Lordschaften befinden sich auch der berühmte Stummfilm-Star Ivor Novello und der amerikanische Filmproduzent Morris unter den noblen Gästen. Während die feine Gesellschaft auf der Belle Etage den kultivierten Müßiggang streng ritualisiert und nach festgefügten Mustern zelebriert, bekommen die zahlreichen Bediensteten in den Gesinderäumen, der Küche und den Fluren davon kaum etwas mit. Auf Gosford Park ist die strikte gesellschaftliche Hierarchie noch vollkommen intakt: Loyalität, Diskretion und absoluter Gehorsam sind Bedingungen, die nicht nur die Herrschaften an ihre Lakaien stellen, sondern auch die Dienerschaft an sich selbst. Nur bei ihren im Souterrain eingenommenen Mahlzeiten wird genüßlich der neueste Tratsch über das Treiben, das Leiden und die Intrigen der Herrschaften ausgetauscht.

Erst als um Mitternacht ein Mord das Haus erschüttert, wird allen klar, daß auf diesem prächtigen Landsitz nichts so ist, wie es scheint - weder oben in den luxuriösen Salons, noch unten in den Waschküchen und Werkstätten. Und Scotland Yard-Inspektor Thompson steht vor einer Wand des Schweigens. Ein dunkles Geheimnis scheint die beiden so unterschiedlichen Welten unsichtbar miteinander zu verbinden...

"Gosford Park" von Regisseur Robert Altman ("MASH", The Players") ist ein ungemein detailreich gebauter und für das Genre des klassischen englischen "Country House Murder Mystery" erstaunlich wahrhaftiger Film. Dabei resultiert die Spannung nicht allein aus der Identifizierung des Täters, dessen Name irgendwann fast beiläufig aufscheint, sondern aus der verzweifelten Suche nach den Motiven für den Racheakt eines vom Leben offenbar entsetzlich versehrten und gedemütigten Menschen.

Altman verzichtet verdienstvollerweise völlig darauf, Emotionen zu schüren und die Betroffenheitstaste zu drücken und entwickelt statt dessen in den geschliffenen Dialogen mit gekonnter Leichtigkeit eine Brillanz des feinen Humors. Und wie es dem vertrottelten Polizeiinspektor - von Stephen Fry ("Oscar Wilde") mehr als liebevoll gespielt - an kriminalistischem Spürsinn mangelt, so unglaublich tragisch und komisch zugleich inszeniert der Regisseur die moralisch-gesellschaftliche Sinnvergewisserung der sogenannten Upper Class, der kaum jemals ihr Snobismus böser auf den Leib geschrieben wurde. Was sich hier simultan im Kosmos des "oben" und "unten" ereignet, hat nun gar nichts mehr mit dem heute lächerlich gewordenen Klischee zu tun, daß immer der Gärtner, der Butler oder die Gouvernante die Mörder sind.

Ob ein solcher Film in Zeiten, in denen die große Freiheit des schlechten Geschmacks nicht nur auf der Kinoleinwand Triumphe feiert, auch kommerziellen Erfolg haben wird, ist sehr fraglich. Zu wünschen wäre es ihm, denn er offenbart dem Zuschauer eine Welt, die nicht nur einfach untergegangen ist, sondern deren Kompliziertheit, die sich durch mannigfaltige, sensible Rituale und Abzeichen gegen den Rest abschottete, heute kaum noch jemand wirklich versteht. Immerhin heimste "Gosford Park" nicht nur vier Golden Globe- und fünf Oscar-Nominierungen ein, sondern bekam auch einen Oscar für das beste Originaldrehbuch des Jahres (Julian Fellowes).

Wenn etwa der Butler Jennings (Alan Bates in seiner wohl bisher besten Rolle) sich im Salon zum Takt eines am Piano vorgetragenen Schlagers in den Hüften wiegt, drückt diese Haltung all das aus, was seiner Herrschaft längst abhandengekommen ist: Lebensfreude, Herzlichkeit, Solidarität. Und wenn die Hausdame Mrs. Wilson - der Helen Mirren unverwechselbar Ausdruck verleiht - ihre moralische Befriedigung darin findet, die Zementierungen dieser Ordnung endlich ein wenig anzukratzen, dann sanktioniert sie dadurch zwar immer noch diese Herrschaftsform, indem sie ihr kriminelles Element gleichsam abspaltet und entpolitisiert, stellt aber gewissermaßen inmitten des großbürgerlichen Meublements die verlorengegangene Ordnung wieder her.

Die verdrängte Schuld und die verdrängte Lust, die in dieser fragwürdigen Idylle züchtig verborgen scheinen und dem profanen Blick des Nichteigentümers und des Kleinbürgers entzogen sind, brechen doch drückend und schwülstig an allen Ecken und Enden hervor. Als Kontrapunkt dazu steht in Altmans Film die jugendliche Zofe Mary (Kelly MacDonald) mit ihrer naiven Offenheit, Freundlichkeit und Herzensbildung.

Grundsätzlich ist der Mord die avancierteste Form der gewalttätigen Ausbeutung. In "Gosford Park" schwitzen die mörderischen Intrigen des Genres ihre historischen Verbrechen als individuelle aus. Das ist nicht neu, bringt aber andererseits allen Beteiligten einen gewissen Frieden, indem der Schuldige gefunden und für seine Klasse bestraft wird. Nach diesem rituellen Opfer können sich die Überlebenden, die durch das Purgatorium des Verdachts gereinigt sind, endgültig und legitimiert in ihren Idyllen einrichten. Bis zum nächten Mord!


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen