© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Auf der Flucht vor Gott
Moral im Computerzeitalter: Kontroverses von Peter Sloterdijk auf dem Deutschen Trendtag
Werner Olles

Eine "Zivilisation der Grausamkeit" hat der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk beim 7. Deutschen Trendtag in Hamburg für die Zukunft prophezeit. Er zeichnete ein überwiegend düsteres Bild der modernen Konsum- und Informationsgesellschaft voller Neid, Habgier und Eifersucht. Durch die starke Verbreitung der Computer entstehe eine gänzlich neuartige Form der Sklaverei. Die Computer selbst spielten dabei die Rolle der Sklaven, die den Menschen ihre Arbeit abnehmen. Die Herrschaft in der Gesellschaft falle jedoch immer stärker den Besitzern und Kontrolleuren der Kommunikationskanäle zu, welche wichtige Daten und andere Güter rund um den Erdball transportieren. Nach Sloterdijks Analyse zieht sich der einzelne Mensch noch weiter in soziale Nischen zurück und läßt sich durch die alles bestimmenden Medien - ähnlich wie im antiken Rom - mit "Brot und Spielen" einigermaßen bei Laune halten.

Als wesentliche Triebkräfte im heutigen Zusammenleben klassifiziert der Philosoph Neid, Eifersucht und ständigen Konsum. Was die Soziologen einst euphemistisch als "Erlebnisgesellschaft" beschrieben hätten, sei nichts weiter als "medial inszenierte Konsumpanik". In einer "Kultur des täglichen Ausnahmezustandes" stacheln sich die Konsumenten gegenseitig zu immer neuen Käufen an, da die glitzernde kapitalistische Warenästhetik scheinbar grenzenlosen Genuß verspricht. Nicht einmal die einst als Reformkraft angetretenen Grünen hätten diese auf Hochtouren laufenden Reaktoren der "großen Neidkraftwerke" unserer modernen Gesellschaften abzuschalten versucht. Nur das permanente Vermehren des Warenangebots könne die Konsumgier befriedigen und dadurch die "Brennstäbe des Neids vor dem Durchbrennen" bewahren. Hoffnung schimmert indes bei Sloterdijk nur ganz am Rande durch: "Souverän ist, wer sich von dieser Sklaverei freimacht!"

Der Essener Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz widersprach Sloterdijk vehement. Indem er auf eine gerade im Computerzeitalter neu aufkeimende Moral setzt, die allerdings ausschließlich ökonomisch und mathematisch begründet ist, zeichnet er ein deutlich angenehmeres Bild der Zukunftsgesellschaft. Folgt man ihm, dann können die "Netzwerk-Kinder" in fast anonymen Internet-Gemeinden "gelassen miteinander kooperieren". Zwar versuche dabei jeder nach mathematischen Grundsätzen den größten Nutzen für sich herauszuholen, aber - so lautet seine unmißverständliche Warnung - Liebe und menschliche Nähe hätten als Voraussetzung ethischer Standards ausgedient und eine Renaissance werde es nicht geben. Nüchtern und knallhart setzt Bolz statt dessen auf die "Stärke der Informationsverarbeitung".

Lange vor Sloterdijk hatte niemand anderes als Papst Johannes Paul II. auf die unheilvolle Entwicklung hingewiesen, die sich am Horizont der kapitalistischen Globalisierung mitsamt ihren neoliberalen Vorboten abzeichnete. Der naiven Annahme, durch die scheinbar unaufhaltsamen Fortschritte der Gentechnologie stünden wir am Beginn eines "posthumanen Zeitalters", in dem der Mensch nur mehr ein Auslaufmodell inmitten künstlicher Intelligenzen sei, erteilte er eine scharfe Absage. Und auch den verheißungsvollen Fassaden einer weltumspannenden Kommunionsgemeinschaft mit angeblich nie gekannter Freiheit und Flexibilität konnte der Papst kaum etwas Positives abgewinnen, denn dahinter sah er eine sich wachsende Unsicherheit verbergen.

Am Beispiel seiner Heimat Polen nach der Befreiung vom Joch des Kommunismus erkannte er, daß nach dem glücklichen Verschwinden der alten Diktatur an ihre Stelle eine fortschreitenden Fragmentierung der vertrauten Welt trat, in deren virtuellen Raum sich soziale Verantwortlichkeiten und liebgewonnene Werte und Ordnungen zunehmend verflüchtigten.

Daß die moderne Welt, in der der Lifestyle regiert und in der Waren mehr als alle Gedichte sagen, ein immer komplexer werdendes Labyrinth von Realität, Projektion und Reflexion ist, und die Zivilisation laufend so unromantische Dinge wie Stadtautobahnen, Hochhäuser und Fast-Food-Restaurantketten hervorbringt, ist ein mehr als deutliches Zeichen für das unwiederbringliche Ende aller großen Sozialutopien. Sowohl in der Literatur als auch in der Geschichte waren sie nämlich zumeist hermetisch geschlossene Gesellschaften. Angefangen bei Platons Staat über Fichtes geschlossenen Handelsstaat bis hin zu den diversen real existierenden Sozialismen, eine solche Gesellschaft war immer nur möglich, wenn alle störenden Einflüsse von außen durch rigide Überwachung, Kontrolle, Zensur und Grenzen ausgeschaltet werden konnten.

Demgegenüber ist die Mobilität von Kapital und Daten, da sie kultur- und heimatlos sind und mit minimalen Kosten bewegt werden können, wahrhaft perfekt. Hatte der Nationalliberalismus des 19. Jahrhunderts noch ausdrücklich betont, daß die Verwirklichung der Rechte des Einzelnen den souveränen Staat voraussetzt, der durch die Wahrnehmung seines Interesses die Freiheit seiner Staatsbürger schützt, hat der Neoliberalismus längst die Globalisierung als höchste Stufe des Kapitalismus entdeckt, die jedoch im Gegensatz zu Lenins Imperialismusthese nicht zu einer Machtkonkurrenz der Nationalstaaten, sondern zur Herausbildung und zum Wettbewerb multinationaler Unternehmungen führt. Gleichzeitig senkt die Globalisierung die Grenzmauern und relativiert damit die Gewalt territorialer Hoheiten. Völlig zu Recht wird sie von den verunsicherten Bürgern als Entgrenzung verstanden, die die zivilisierende Rolle des Staates weitgehend aufhebt. Dies ist der Augenblick in dem der Krieg aller gegen alle beginnt.

Dieser Krieg fügt der Natur wie der menschlichen Seele schwerste Verletzungen zu. Zwar ist auch das Leben selbst ein ständiger Kampf, aus dem niemand unversehrt hervorgeht, aber daß der Mensch des Menschen Wolf ist, diese Erkenntnis ist wohl die einzige Gewißheit in einer entgrenzten, globalisierten Welt. Da es aber mit antibürgerlichen, antizivilisatorischen und industrie- und technikfeindlichen Überzeugungen allein nicht getan ist, und selbst Heideggers virtuoser Satz von der "Geworfenheit des Daseins" hier nur wenig hilfreich scheint, ist vielleicht doch ein Rückgriff auf das Grundsätzliche vonnöten.

Nach Frithjof Schuon ("Das Ewige im Vergänglichen") ist der Mensch "für das Unbedingte oder Unendliche geschaffen, nicht aber für das endlose Zufällige". "Es gibt in jedem Menschen einen unverderblichen Stern", schreibt Schuon: "Diesen Stern aber erlöst der Mensch nur in der Wahrheit, im Gebet und in der Tugend". Die Dialektik zwischen Subjekt und Objekt gilt nach Schuon auch dann, wenn die moderne Wissenschaft der Religion "tödliche Wunden" beibringt, indem sie gewisse Fragen stellt, die zwar "nichts gegen den überlieferten Stand der Religion beweisen", diese aber insgeheim "von innen her" aushöhlen.

Genau wie Sloterdijk erkannte Schuon, "daß die vom Wissenschaftsglauben geschaffene Welt überall dazu neigt, aus dem Mittel den Zweck und aus dem Zweck ein Mittel zu machen, und daß sie entweder auf eine Mystik des Neids, der Bitterkeit und des Hasses oder auf einen dummseligen und gleichmacherischen Materialismus hinausläuft".

Im Gegensatz zu dem Karlsruher Philosophen erinnerte Schuon aber an das meistvergessene Wort Christi: "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele?" So gesehen ist die moderne Spaßgesellschaft mit ihrem neuen Evangelium des Materialismus und der künstlichen Zerstreuung nichts als eine Flucht vor Gott und vor der Erkenntnis, daß der aus Gott entsprungene Kreislauf, "gleich einem Ring, der nie aus dem Unendlichen herausgetreten ist, in sich zurückkehrt". Selbst wenn wir also den Willen Gottes, die Natur, das Schicksal oder die objektive Wirklichkeit verleugnen, und die subjektive Realität als das Maß aller Dinge darstellen, bleibt das göttliche Prinzip dennoch gültig.


 
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