© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Heute in der Stalinallee
(DN)

Die Häuser der Karl-Marx-Allee stehen heute unter Denkmalschutz. Sie sind saniert, die privaten Investoren hoffen auf zahlungskräftige Mieter, die Stadtplaner auf den Aufstieg zur neuen Avenue. Doch das ist Zukunftsmusik. Einige neue Restaurants haben aufgemacht, böhmische, mexikanische und das postnostalgische "Sibylle", benannt nach der einzigen Modezeitschrift des Arbeiter-und Bauernstaates.

Vor gut zwei Jahren eröffnete auch die Espressobar "Ehrenburg". Sonntags zwischen 11 und 12 Uhr herrscht hier gähnende Leere, während anderswo in Berlin sich die angesagten Kneipen füllen und die Spätaufsteher zum Frühstücksbufett drängen. Die Sonne lockt einen auf die Terasse, doch da die Straße 90 Meter breit ist, ist es enorm zugig. Das Cafe hat große Fenster, lackierte Holztische und -sessel und eine quadratische Bar in der Mitte. Die Wände sind nackt, abgesehen von zwei Bildern. Eines zeigt den Schriftsteller Ilja Ehrenburg, das andere eine Friedenstaube. Wohlmeinende nennen das minimalistisch, andere unterkühlt. Die Decke wird mit indirekter Beleuchtung rötlich angestrahlt.

Kurz nach der Eröffnung hatte es Mahnwachen, Flugblattaktionen, Proteste gegeben, die von der Vereinigung der Opfer des Stalinismus und dem Bund der Vertriebenen angeführt wurden. Auf sie wirkte der über der Eingangstür angebrachte Name als rotes Tuch. Die Betreiber hatten das nicht beabsichtigt. Früher unterhielten sie das "Silberstein" in der Oranienburger Straße, die ihnen bald zu touristisch wurde. Sie zogen an die Peripherie der Berliner Erlebnisgesellschaft, um auch dort den neuen Trend zu pflanzen. "Ehrenburg", das klang jüdisch, russisch, nach dem Berlin der zwanziger Jahre. Nach genau der Mischung, die in der Hauptstadt en vogue ist. An Ehrenburgs Propaganda im Zweiten Weltkrieg dachte keiner.

Auf einem Regalbrett stehen Bücher von Ehrenburg, Stalin, Lenin. Auch das ist kein "Tabubruch", sondern bloß als ironisches Zitat, als Gag, als Werbesignal gedacht. Die "Generation Berlin", der Trendforscher eine neue Härte, Schwere, Ernsthaftigkeit nachsagten, kann die Leidenschaft, die Ältere mit der Weltkriegsgeschichte verknüpfen, gar nicht verstehen. Auch der 17. Juni ist für sie kein Begriff.

Ein teurer Möbelladen nebenan hat schon wieder dichtgemacht. Die überdimensionierte Prachtstraße beleidigt die Flaneure von heute, denen nichts so lieb ist wie ihr Ego. Bedingt durch den Kulissencharakter der Straße, fehlt das Geflecht aus Nebenstraßen, welche der Allee die Passanten zuführt. Gnadenlose Zeiten. Keine PR-Aktion, kein Griff in die Asservatenkammer der Geschichte und Ideologie gleicht mehr aus, was die freie Wirtschaft einen Standortnachteil nennt.


 
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