© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Eine diplomatische Bombe in Tallinn
Estland: US-Botschafter DeThomas forderte von der Baltenrepublik, den Holocaust als Teil ihrer Geschichte anzuerkennen
Carl Gustaf Ströhm

Wenige Tage nachdem sich die Präsidenten der USA und Rußlands, George W. Bush und Wladimir Putin, zuerst in Moskau und Petersburg, dann aber auch noch auf dem Nato-Gipfel in Italien miteinander verbrüdert hatten und Rußland zwar nicht formell, aber de facto in die Nato - durch den Nato-Rußland-Rat - aufgenommen wurde, "explodierte" in Tallinn (Reval) eine "diplomatische Bombe".

Die Verbrüderungsszenen zwischen Amerikanern und Russen waren noch frisch in Erinnerung, die russische Trikolore zwischen den "übrigen" Fahnen der Nato-Mitgliedsländer nicht eingerollt, da meldete sich in der Hauptstadt Estlands der dortige Botschafter der USA, Joseph Michael DeThomas, zu Wort. In einem Beitrag für die führende Tallinner Tageszeitung Eesti Päevaleht ging der Botschafter - der als US-Missionschef in Addis-Abeba während des Bürgerkrieges die Evakuierung von 28.000 äthiopischen Juden organisierte - mit seinem Gastgeberland hart ins Gericht.

Die Esten, so der US-Diplomat am 28. Mai, hätten sich seit Wiedergewinnung ihrer Unabhängigkeit wesentlich weniger mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt als andere Länder Europas. In Estland sei niemand wegen des Holocausts verurteilt oder schuldig gesprochen worden, obwohl auch in Estland Personen jüdischer Abstammung während der "Nazi German occupation" ermordet worden seien. Die Esten müßten den Holocaust als Teil ihrer Geschichte anerkennen und ihre Kinder über diese Vergangenheit aufklären. Anderthalb Schulbuchseiten reichten dazu nicht aus. "Ich hoffe", schrieb DeThomas, "die estnische Regierung ... arbeitet intensiver mit der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research zusammen".

Kurze Zeit später wurde die Unterstaatssekretärin im US-Außenministerium für "europäische und eurasische Fragen", Heather Conley, noch deutlicher. Vor einigermaßen verdatterten estnischen Journalisten machte die hohe US-Diplomatin die künftige Nato-Aufnahme Estlands von einer intensiven und schuldbewußten Behandlung des Holocaust-Problems abhängig. Das Thema Holocaust sei ein Teil des Dialogs, den Amerika mit allen Nato-Kandidatenländern führe. Die USA rufe alle diese Länder, so Heather Conley, zu "einem Gespräch über dieses Thema auf". Die Unterstaatssekretärin teilte ferner mit, sie habe mit dem estnischen Botschafter ein "ernstes Wort" in dieser Angelegenheit gesprochen.

Die estnische Öffentlichkeit, die bisher gewohnt war, von den USA und vom Westen wohlwollend und freundlich behandelt zu werden, war wie vom Donner gerührt. Ein estnischer Kommentator antwortete auf die amerikanischen Beschuldigungen mit der Feststellung, die Republik Estland könne nicht für den auf estnischem Boden stattgefundenen Holocaust verantwortlich gemacht werden, denn Estland habe als damals besetztes Territorium - 1940/41 unter sowjetischer, dann bis 1944 unter deutscher und schließlich bis 1991 unter sowjetischer Okkupation und Herrschaft - als handlungsfähiges Völkerrechtssubjekt überhaupt nicht existiert.

Auf die Rüge des US-Botschafters und der Washingtoner Diplomatin, weshalb es in Estland keinen besonderen Holocaust-Gedenktag gebe, antworteten estnische Kommentatoren, es gebe den 14. Juni (den Jahrestag der Massendeportationen durch die Sowjets im Jahre 1941), der als Gedenktag für alle Opfer von Fremdherrschaft und Gewalt begangen werde. Eesti Päevaleht konterte sogar mit der Bemerkung, man habe den US-Botschafter noch nie einen Kranz an der Statue der "Linda" - dem Denkmal für die estnischen Opfer - hinterlegen sehen.

Im Gegensatz zu den baltischen Nachbarländern Litauen und Lettland gab es in Estland vor 1940 nur einige tausend Juden und kaum nennenswerten Antisemitismus. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Esten - die in dieser Hinsicht gebrannte Kinder sind - vermuten, die Holocaust-Schelte stehe im Zusammenhang mit der neuen russisch-amerikanischen Annäherung und mit der Kooptierung Moskaus in das transatlantische Militärbündnis durch den Nato-Rußland-Rat. Estnische Politiker beginnen darüber nachzudenken, was es bedeute, wenn Rußland de facto noch vor den baltischen Staaten in die Nato - wenn schon nicht aufgenommen, dann doch als ständiger Gast kooptiert wird.

Als während einer Fernseh-Pressekonferenz mit der amerikanischen Unterstaatssekretärin ein estnischer Journalist fragte, was man in Washington von den seinerzeitigen Unterdrückungs- und Ausrottungsmaßnahmen der Sowjets gegen das estnische Volk hielte, erhielt er die kühle Antwort: Washington wünsche nicht, bilaterale estnisch-russische Probleme zu kommentieren.

Noch alarmierender finden estnische politische Kreise eine Analyse des prominenten und einflußreichen russischen Präsidentenberaters und Vorsitzenden des Moskauer "Rats für Außen- und Verteidigungspolitik", Sergej Karaganow. Dieser führende russische Experte äußerte sich geradezu enthusiastisch über den Wandel der amerikanisch-russischen Beziehungen und bezeichnete Rußland und die USA nicht nur als Partner, sondern in einigen Bereichen bereits als "Verbündete". Karaganow, der schon Präsident Jelzins als graue Eminenz der russischen Außenpolitik galt (und der damals für die baltischen Staaten den völkerrechtlich doppeldeutigen Ausdruck "nahes Ausland" prägte), ist jetzt geradezu begeistert, daß Rußland, die USA und Großbritannien sich einem Bündnis näherten, welches gemeinsam die "Herausforderungen" der internationalen Politik meistern soll.

Rußland habe dadurch an internationalem Prestige gewonnen. Heute sei Rußland wieder "die erste Großmacht nach den USA". Rußland habe in der ganzen Welt seinen Einfluß verstärkt. Sein Großmacht-Potential könne Rußland, dank Putins Politik, in den Beziehungen zu seinen anderen Partnern, zum Beispiel gegenüber Europa und China, einsetzen. Die Amerikaner hätten erkannt, so Karaganow, daß sie "einen zuverlässigen Partner" in Europa brauchen. Dieser Partner ist in Karaganows Augen nicht etwa die EU - sondern Rußland. Kein Wunder, daß angesichts solcher Töne im Baltikum die Alarmglocken schrillen und die Furcht umgeht, wieder einmal vom Westen verschaukelt zu werden.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen