© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
Tod eines Herausgebers
Mit einer massiven Denunziation Martin Walsers erreicht der Geistesterror den Literaturbetrieb
Günter Zehm

So etwas hat es bisher im Kulturleben noch nicht gegeben, auch nicht im heruntergekommendsten Literaturbetrieb. Ein Roman, der noch gar nicht erschienen ist, von dem noch nicht einmal Druckfahnen vorliegen, von dem es lediglich einen unautorisierten Computerausdruck gibt, wird zum Anlaß genommen, um seinen Autor in aller Öffentlichkeit, nämlich in einer der großen Zeitungen des Landes, als Erzlump und Meinungskriminellen zu denunzieren, als Mordhetzer und Antisemiten, als Haßproduzenten und unerträglichen Klischeefabrikanten.

Und wer ist dieser Literaturgangster und Politverbrecher? Es ist kein geringerer als Martin Walser, einer der hervorstechendsten und bekanntesten deutschen Schriftsteller der Gegenwart. Und wer denunziert ihn und wo? Frank Schirrmacher denunziert ihn, der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und zwar in ebendiesem Blatt, an hervorragender Stelle und in größter Aufmachung. Die Leser fassen es nicht. Wo leben wir denn eigentlich? Und was ist mit den guten Sitten los, für die sich doch gerade die FAZ so prononciert einzusetzen pflegt?

Vorausgegangen war offenbar Folgendes: Der Suhrkamp-Verlag, in dem die Bücher von Walser erscheinen, hatte der FAZ, in der seit langem die Romane Walsers vorabgedruckt werden, den neuen Walser-Roman routinemäßig zum Vorabdruck angeboten und ihr den ersten Computerausdruck übersandt. Frank Schirrmacher hatte den Text gelesen und entdeckt, daß es sich um eine deftige Satire auf den aktuellen deutschen Literaturbetrieb und dessen "Starkritiker" Marcel Reich-Ranicki handelt, der auch Mitarbeiter der FAZ ist. Das genügte ihm, um sofort zur Feder zu greifen, den Vorabdruck mit öffentlichem Aplomb abzulehnen und Walser zu kriminalisieren. Denn Reich-Ranicki ist jüdischer Abstammung und seine Parodierung mithin eine schlimme Sünde wider den heiligen Zeitgeist.

An sich würde der Casus nur Lachen hervorrufen, wenn er nicht gleichzeitig so degoutant wäre. Reich-Ranicki, der bei Fernsehauftritten höchst drollig outriert und deshalb über den Literaturbetrieb hinaus sehr bekannt geworden ist, wurde bereits unzählige Male parodiert und von Schriftstellern und anderen Kritikern natürlich auch angegriffen und mit Polemik überzogen. Peter Handke schimpfte ihn einst einen "Feind", dessen kritische "Mordlust" durch seinen zeitweiligen Zwangsaufenthalt im Warschauer Ghetto noch "verstärkt" worden sei. Auch Walser hat den Kritiker schon in einem früheren Roman parodistisch durch den Kakao gezogen, ohne daß das damals irgend jemandem aufgefallen wäre, nicht einmal Reich-Ranicki selbst. Weshalb plötzlich die Wut und der "Skandal"?

Walsers Buch sollte ursprünglich Ende August erscheinen. Inzwischen hat der Suhrkamp-Verlag in Windeseile einige Druckfahnen angefertigt und an Kritiker und engere Interessenten verschickt, damit sich wenigstens diese ein Bild von dem Buch machen können. Es ist ein lustiges, gut lesbares, in vieler Hinsicht treffendes Werklein, in dem auch noch andere lebendige Literaturgrößen in durchsichtiger Verkleidung auftreten, der Rhetoriker Walter Jens beispielsweise oder der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Solche Fiktionalisierungen sind durchaus üblich und fester Bestandteil der Literatur.

Thomas Mann war ein Meister dieser Methode. Seine - oft ebenfalls parodistischen - Quasi-Porträts von Gerhart Hauptmann oder Georg Lukács, Stefan George, Annette Kolb oder Emil Preetorius sind in die Literaturgeschichte eingegangen. Mag sein, die Walserschen Porträts reichen nicht ganz an die von Mann heran, aber für Laune sorgen sie allemal, speziell das von Reich-Ranicki, der freilich leicht, fast allzu leicht zu parodieren ist.

Wenn man Walser literarisch etwas vorwerfen kann, dann dies, daß er es sich, und zwar nicht nur in diesem neuen Roman "Tod eines Kritikers", sondern auch schon in früheren Werken, zu leicht macht. An sich ein typischer poeta doctus, ein gelehrter Germanist und Hölderlin-Kenner, vertraut er seit längerem nur noch dem dramaturgischen Knalleffekt, dem Schlag mit der Klatsche des Puppenkaspers. Seine Personnagen gleichen immer mehr Figuren aus dem Puppentheater, auch und gerade wenn sie "authentisch" daherkommen, durch Dokumente, "Oral History" und Erscheinen im Fernsehen beglaubigt sind.

Wirklich bedeutende Werke wie der autobiographisch getönte Dreißiger-Jahre-Roman "Ein springender Brunnen" werden dann zur Ausnahme. Nur dort gelingt es Walser noch, die Oberfläche bloßer impressionistischer Wahrgenommenheiten zu durchstoßen und die Einheit von Subjekt und Objekt, lebendigem Fühlen und präzisem Dabeisein herzustellen, ohne die kein guter Roman entstehen kann. "Tod eines Kritikers" erreicht diese Einheit nicht.

Das Buch ist aber keineswegs eine Kalamität, es behauptet im Œuvre Walsers einen guten Mittelplatz. Denn unmittelbar subjektiv beteiligt ist der Autor hier allemal, es geht um ihn selbst und um seinen Kampf mit einem Betrieb und einem Kritiker, die ihn schurigeln und mit Vorschriften aus der Lesefibel für Anfänger überziehen. Der Autor wehrt sich, er schlägt ziemlich um sich, behält aber die volle Übersicht, verliert weder seinen Witz noch seine gute Laune.

Das Geschrei von Frank Schirrmacher, der darin eine Mordphantasie gegen einen Überlebenden des Holocaust und seine Frau sieht, ist absurd und geradezu bösartig, besonders wenn man bedenkt, daß es Schirrmacher war, der Walser in den vergangenen Jahren immer eifrig lobte und förderte und der 1998 in der Paulskirche auch die Laudatio auf den Friedenspreisträger Martin Walser gehalten hat, der damals seine aufsehenerregende Rede über den Umgang mit der Erinnerung an Auschwitz vortrug.

Man kann sich Schirrmachers Schwenk und die monströse Unfairneß, mit der er vollzogen wurde, nur so erklären, daß sich hier einer selber aus der Schußlinie bringen will. Seine Position bei der FAZ ist wegen deren gravierender Verlustgeschäfte, für die nicht zuletzt Schirrmacher verantwortlich gemacht wird, nicht ungefährdet und verträgt es nicht, zusätzlich mit Vorwürfen wegen mangelnder political correctness belastet zu werden. Gut möglich, daß Schirrmacher mit seiner grellen Inszenierung der Causa Walser eine Frontverkürzung erreichen will und ihr zuliebe seinen bisherigen Mitarbeiter und guten Bekannten, wenn nicht Freund, über den Jordan gehen läßt.

Der Geistesterror, der zur Zeit in Deutschland herrscht, erreicht mit der Denunziation Schirrmachers jetzt das Zentrum des etablierten Literaturbetriebs. Schon hat Reich-Ranicki den Suhrkamp-Verlag aufgefordert, den neuen Walser-Roman nicht herauszubringen. Man wird sehen, ob es noch Widerstandskräfte im Lande gibt.


 
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