© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
Ist die Agrarwende zu Ende?
Nitrofenskandal: Der Pestizid-Weizen hat das Vertrauen in die Bio-Landwirtschaft erschüttert / Hundert Prozent "Öko" notwendig
Franz Alt

Schon wieder Massenschlachtungen in Deutschland. Was haben uns die Tiere getan, daß wir sie jetzt wieder massenhaft umbringen? Wenn Menschen versagen oder kriminell handeln, werden tausende Tiere getötet - erst wegen BSE, dann wegen Maul- und Klauenseuche und nun wegen Nitrofen. Mehrere zehntausend Legehennen werden jetzt geschlachtet. Ihre Eier werden vernichtet. Neu am Skandal ist: dieses Mal hat es die Ökobranche getroffen. Ist nun die Agrarwende am Ende?

Es war schon immer wenig glaubwürdig, wenn Einbrecher "Haltet den Dieb" geschrieen haben. So ist es auch diesmal. Bauernfunktionäre, die mitverantwortlich dafür sind, daß jährlich in Deutschland noch immer Tausende Tonnen giftige Pestizide, Herbizide und Fungizide auf Felder gespritzt werden, auf denen Lebensmittel wachsen sollen, weisen jetzt am lautesten mit erhobenen moralischem Zeigefinger auf die Ökolandwirtschaft. Da ist viel Scheinheiligkeit und noch mehr Heuchelei im Spiel.

Und doch kann "C12,H7,CL2, NO3", die Formel für Nitrofen, der Ökolandwirtschaft mehr schaden als die gesamte geldbesessene Chemie- und Agrarlobby, die konventionellen Agrarprofessoren und alten Lebensmittelverarbeiter zusammen. Das größte und nachhaltigste Kapital der Ökobauern ist - neben ihrem Boden - das Vertrauen der Verbraucher. Und das ist jetzt erstmals massiv erschüttert.

Kann es wiederhergestellt werden? Und was sind die Konsequenzen aus dem neuen Skandal? Unter Ökolandwirten wurden in den letzten zwei Wochen viel zu häufig Verschwörungstheorien gemunkelt: Ist der Zeitpunkt des Skandals, jetzt zur Vorwahlzeit, reiner Zufall? Könnte nicht auch Sabotage die Ursache sein? Wer könnte Interesse daran haben, daß das aufstrebende Ökopflänzchen rasch wieder verdorrt? Psychologisch sind solche Fragen verständlich. Doch sie zeugen von wenig Selbstvertrauen in die eigene Arbeit und von zu viel Angst um das eigene Image.

Bis zum letzten Wochenanfang zumindest war klar, daß die Ökobranche den Skandal im eigenen Dunstkreis produziert hat. Unklar war allerdings, wie das Pestizid Nitrofen ins Futtermittel gelangen konnte. Inzwischen wissen wir mehr: Die Futtermittelindustrie erwies sich als die Achillesferse der gesamten Kette von Nahrungsproduktion. Das war bei "Bovine Spongiforme Enzephalopathie" (BSE) so und das ist auch jetzt so.

Ohne mehr Kontrolle wird sich das nicht ändern. Nur wenn Futtermittelpanschern mehr auf die Finger geschaut und geklopft wird, lassen sich künftig Nahrungsmittelvergiftungen wie im Fall Nitrofen verhindern. Geldstrafen allein werden in Zukunft bei ähnlichen Vergehen nicht ausreichen. Hier wird schließlich - wie Bundesverbraucherministerin Renate Künast zu Recht angemerkt hat - "mit Menschenleben gespielt". Berufsverbote für kriminelle Giftmischer, die Bescheid wußten und trotzdem schwiegen, wäre die einzig richtige Konsequenz.

Auch in diesem Skandal gibt es eine Chance - nämlich die der Ökolandwirtschaft. Sie sind nicht automatisch die besseren Bauern, die ethisch korrekt und umweltschonend mit Tieren, Pflanzen und Boden umgehen, sondern Menschen, die versuchen, ihre wichtige Arbeit nachhaltig zu verrichten. Deshalb sind ihre Kühe und Hühner glücklicher und ihre Ackerfrüchte gesünder und geschmacksreicher. Und deshalb verdienen die Produkte der Biolandwirte auch einen höheren Preis. Heilige sind Biobauern nicht, allenfalls Teilzeitheilige. Und selbstverständlich gibt es auch unter ihnen schwarze Schafe oder besser: Betrüger und große Gauner. Insgesamt sind aber Biolebensmittel auch jetzt noch weit sicherer als konventionell erzeugte Waren.

Keine Branche wurde schon bisher so oft und so intensiv kontrolliert wie die Ökolandwirtschaft. Deshalb ist der Skandal ja auch aufgedeckt worden. Dieselben kriminellen Machenschaften wären in der konventionellen Landwirtschaft sehr wahrscheinlich heute noch nicht ans Tageslicht gekommen, weil dort viel weniger kontrolliert wird.

Daran soll sich auch künftig nichts ändern, wenn es nach dem Willen von CDU/CSU und FDP geht. Selbst jetzt hat die parlamentarische Opposition im Bundesrat gegen das Gesetz für mehr Verbraucherinformation gestimmt. In Renate Künasts Bereich, bei der Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach, wurde unentschuldbar geschlampt und geschlafen. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Aber die Oppositionsparteien in ihrer alten Verflechtung mit dem Agro-Chemie-Komplex sind selbst jetzt in der Katastrophe ein Totalausfall. Verfilzt und zugenäht!

Das alte Agro-Business hat aus dem BSE-Skandal immer noch nichts gelernt. Sonst würden ihre Vertreter jetzt nicht so scheinheilig - wie zum Beispiel der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner, - die Agrarwende insgesamt in Frage stellen.

Es ist kein Zufall, daß im Mittelpunkt des Skandals die niedersächsische Firma GS Agri steht, die Futtermittel sowohl für Ökobauern wie für konventionell wirtschaftende Landwirte produziert. Hier kann am leichtesten getrickst und gemauschelt werden.

Die Scheinheiligen haben sich also zu früh gefreut. Ausgerechnet die Vertreter der Chemie- und Pestizid-Landwirtschaft hatten den moralischen Zeigefinger erhoben: Pfui-Teufel, das Pestizid Nitrofen in Ökoprodukten!

Renate Künast hat für rasche Aufklärung gesorgt: Jetzt wissen wir, wie Nitrofen in die Lebensmittel kam. Es kam aus den agro-industriellen Strukturen der alten DDR-Landwirtschaft: Altlasten! Vertuscht, verdrängt und verschwiegen aber wurde in den heutigen Strukturen. Die chemische intensivierte Landwirtschaft ist die Ursache, nicht die Öko-Landwirtschaft. Die Konsequenz kann nur heißen: Agrarwende jetzt! Jetzt erst recht! Gifte haben grundsätzlich nichts in unseren Böden zu suchen!

Deutlich wurde freilich auch, daß die Biobranche für Vertuschungsversuche anfällig ist. Fast alle Vertuscher, die viel früher Bescheid wußten als die Verbraucher, sind Mitglied im Deutschen Raiffeisenverband, dem Zusammenschluß von 3.632 Raiffeisen-Genossenschaften, die fast ausschließlich in der Agrarwirtschaft tätig sind. Dort vor allem ist noch viel Aufklärung und noch mehr Konsequenz nötig.

Überraschende Rückendeckung bekam Renate Künast vom Bundeskanzler: "Der Skandal um das nitrofenverseuchte Getreide zeigt, daß die Agrarwende wichtiger denn je ist", sagte Gerhard Schröder. Da hat er völlig Recht. Wir brauchen allerdings keine 20prozentige, sondern eine 100prozentige Agrarwende.

Aus der Vision einer sozialen Marktwirtschaft vor 55 Jahren hätte nie das deutsche Wirtschaftswunder hervorgehen können, wenn Ludwig Erhard damals 20 Prozent soziale Marktwirtschaft propagiert hätte. Halbe Sachen sind keine Vision. Dafür begeistern sich junge Bauern nicht. Nur bei einer kompletten haben Landwirte eine Chance auf eine gute Zukunft. In meinem Buch "Agrarwende jetzt - Gesunde Lebensmittel für alle" habe ich aufgezeigt, daß bis 2030 die Agrarwende in ganz Europa vollendet sein kann.

 

Dr. Franz Alt ist Journalist und moderierte von 1972 bis 1992 das ARD-Magazin "Report" Seit 2000 ist er Leiter der 3sat-Sendung "Grenzenlos". Im vorigen Jahr erschien sein Buch "Agrarwende jetzt - Gesunde Lebensmittel für alle". Weitere Informationen zu diesem und anderen Themen gibt es auf
der Internetseite des Autors: www.sonnenseite.com 


 
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