© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
"Die Kommunisten hatten 40 Jahre Zeit"
Tschechei: Die kommenden Parlamentswahlen könnten eine sozialdemokratisch-bürgerliche Koalition bringen
Ekkehard Schultz

Der Prager "Primator" sorgte letzte Woche für eine "Bombe" im tschechischen Wahlkampf: Kurz vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 14. und 15. Juni trat der einflußreiche Oberbürgermeister der Hauptstadt, Jan Kasl, von seinem Amt zurück und verließ die rechtsliberale Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Parlamentspräsident und Ex-Premier Václav Klaus. Kasl ist bei den Pragern äußerst beliebt, da er als erster Nachwende-Stadtchef konsequent gegen Korruption und Kriminalität einschritt. Der 50jährige promovierte Architekt machte sich damit aber viele Feinde in der Prager ODS. Kasl kritisierte, daß viele ODS-Funktionäre "ihre eigenen Interessen über die der Bürger" stellten. Er selbst könne daher nichts mehr bewegen, es sei ein Gebot der Ehrlichkeit gegenüber den Pragern, zurückzutreten.

Inwieweit sich der Kasl-Rücktritt auf die landesweit sieben Millionen Stimmberechtigten auswirkt, ist jedoch schwer vorauszusagen, denn bislang dominierten andere Themen die oftmals als "Schicksalswahl" deklarierte Abstimmung. Im Mittelpunkt der Diskussion steht neben dem angestrebten EU-Beitritt die Frage der Benes-Dekrete, deren Aufhebung der Bevölkerung stetig als nationale Bedrohung und als Angriff auf die Souveränität der Tschechischen Republik dargestellt wird. So drängt sich der Eindruck auf, als solle die Wahl lediglich zum Referendum über diese beiden Fragen werden.

Spannend bleibt die Frage, ob es den derzeit regierenden Sozialdemokraten (CSSD) von Premier Milos Zeman - der nicht mehr antritt - gelingen wird, stärkste politische Kraft des Landes zu bleiben. Ohne Zweifel hat sich Zeman mit seiner grobschlächtigen, wenig diplomatischen und unkooperativen Art in den vergangenen Jahren nicht nur bei den Sudetendeutschen, sondern auch innerhalb seiner Partei kaum Freunde geschaffen. Dennoch dürfte sich die CSSD unter dem neuen Parteichef und Spitzenkandidaten Vladimír Spidla, wenn auch mit Verlusten von etwa zehn Prozent, mit einem knappen Vorsprung vor der ODS mit ihrem charismatischen Chef Václav Klaus behaupten.

CSSD-Wahlkampflokomotive ist der 32jährige Innenminister und Mädchenschwarm Stanislav Gross. "Die Kommunisten hatten 40 Jahre Zeit, die ODS und Christdemokraten acht Jahre. Wir haben am Anfang einige Fehler gemacht, doch seit zwei Jahren funktioniert es gut", so wirbt der beliebteste Politiker des Landes um einen weiteren Vertrauensvorschuß.

Sollten beide, CSSD und ODS, verlieren, dürfte das bisherige Tolerierungsmodell, durch das die CSSD-Minderheitsregierung seit 1998 mit der ODS eine "inoffizielle" Koalition bildet, durch eine offizielle Koalition ersetzt werden. Die Spitzenpolitiker beider Partei haben sich mehrfach dafür ausgesprochen, nicht zuletzt um ihre Verhandlungsposition gegenüber der EU zu stärken - auch in der Frage der Benes-Dekrete. Zusammen kommen beide Parteien nach jüngsten Umfragen auf etwa 50 Prozent der Stimmen. Dies würde für eine klare Mehrheit ausreichen, da viele kleinere Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern dürften.

Die orthodoxe Kommunistische Partei (KSCM), die übrigens von der deutschen PDS unterstützt wird, könnte mit über 13 Prozent drittstärkste Kraft werden. Allerdings wird ihr wegen ihrer auch von sozialdemokratischer Seite attestierten Reformunfähigkeit wiederum wohl nur der Platz auf den Oppositionsbänken bleiben. Voraussagen über das einzelne Abschneiden der aus drei kleineren bürgerlichen Parteien bestehenden "Koalition" aus Christdemokraten (KDU-CSL), Freiheits-/Demokratische Union US-DEU und Bürgerlicher Allianz (ODA) sind nur schwer möglich. Das Bündnis hat sich erst im Februar dieses Jahres aus innerparteilichen Gründen in die einzelnen Bestandteile gespalten. Doch bereits Ende Februar haben sich KDU-CSL und US-DEU wiederum zu einer neuen Koalition zusammengefunden. Damit dürften ihre Chancen gestiegen sein, gemeinsam bis zu 20 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen.

Die Chancen der seit 1998 nicht mehr im Parlament vertretenen rechtsnationalen tschechischen Republikaner sind noch schwerer abzuschätzen. Die von den anderen Parteien ausgegrenzten Republikaner von Miroslav Sládek (RMS) entstanden Ende 2000 aus der "Sammelbewegung für die Republik - Tschechoslowakische Republikaner Partei" (SRP-RSC). Neben den Kommunisten ist die RMS die einzigste politische Kraft, die sich gegen einen EU-Beitritt, aber auch gegen den Verbleib in der Nato wendet. Die deutschfeindliche RMS könnte angesichts der Benes-Kontroverse diesmal wieder mehr als 3,9 Prozent der Stimmen erreichen.

Welche Rolle die Benes-Dekrete im Wahlkampf spielen, zeigen nicht nur die Äußerungen der führenden Politiker (Zeman im Profil: "Vertreibung milder als Todesstrafe"), sondern insbesondere auch die unwidersprochene Ankündigung von Klaus, daß man bei einer Verbindung von EU-Beitritt und Abschaffung der Dekrete lieber auf den Beitritt verzichten würde. Immer wieder wird in der Agitation von CSSD und ODS deutlich, daß die landesinternen Kritiker dieser Haltung am liebsten in die Rolle von Staatsfeinden gedrängt werden sollen. Zu ihnen zählen in erster Linie die großen liberalen Tageszeitungen des Landes, Mladá Fronta Dnes und Lidové Noviny, eine große Zahl bürgerlicher Intellektueller sowie ein Teil der Bewohner der Grenzregionen.

So richteten im April fast 250 prominente Tschechen unter dem Titel "Stoppt Nationalismus!" einen Aufruf gegen die Benes-Dekrete ans Prager Parlament. Dies solle "eine eindeutige Stellung zu denjenigen Dekreten des Präsidenten der Republik von 1945 einnehmen, die die Grundlage fur die Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen CSR vorbereitet haben". Die Zwangsaussiedlung der Deutschen stelle "ein schmerzliches Problem dar, worüber in der tschechischen Gesellschaft, und zwar auch auf politischer Ebene, eine offene Debatte zu führen ist".

Bislang haben die großen Parteien auf massive Eingriffe in die Pressefreiheit verzichtet, doch das massive Eingreifen des Staates in die Autonomie der Fernsehstationen, die Bilder, die vor zwei Jahren um die Welt gingen, haben den Eindruck verstärkt, daß sie ihren Einfluß in den Medien massiv zu erhöhen gedenken.


 
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