© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
Nur Unfähigkeit und Schlamperei
USA: Ein Brief einer FBI-Agentin offenbart Behördenfehler im Vorfeld der Terroranschläge vom 11. September
Carl Gustaf Ströhm

Das Rätselraten um die Hintergründe und Hintermänner des 11. Septembers 2001 geht in den USA und in einigen Ländern der westlichen Welt unvermindert weiter - trotz des auf den ersten Blick optisch wie kriminalistisch unzweifelhaften Tatbestandes: da schlugen zwei von Arabern gekaperte Passagiermaschinen in das New Yorker Welthandelszentrum mit seinen symbolischen Zwillings-Wolkenkratzern ein. Da stürzte sich eine weitere Maschine auf das Washingtoner Pentagon - und eine vierte, möglicherweise mit dem Weißen Haus als Ziel, stürzte unweit der US-Bundeshauptstadt ab.

War wirklich Osama bin Laden der Täter oder zumindest spiritus rector dieses Unternehmens? War seine al-Quaida-Terrororganisation wirklich imstande, eine solche zeitlich genau synchronisierte "Operation" durchzuführen? Waren überhaupt Araber die Täter? Seit den Attentaten haben sich immer wieder "Verschwörungstheoretiker" zu Wort gemeldet, oft über Website und Internet, dann aber auch in Buchpublikationen, wie etwa der Franzose Thierry Meyssan, der zum Beispiel behauptet, es habe nie einen Flugzeugabsturz auf das Pentagon - das US-Verteidigungsministerium - gegeben (siehe auch JF 08/02). Die verschiedenen "Verschwörungstheoretiker" verbreiten die These, der 11. September sei von interessierter Seite inszeniert, zumindest provoziert worden, um einen Vorwand für einen großangelegten Anti-Terror-Krieg zu liefern. Da ist von Erdölinteressen in Zentralasien die Rede, genannt werden der israelische und der US-Geheimdienst.

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen: diese "Verschwörungsthesen" werden nicht leicht zu beseitigen sein. Selbst noch so überzeugende "Beweise" der Amerikaner werden sie nicht aus der Welt schaffen. Der 11. September wird ein mystisches, dunkles und unerforschbares Datum bleiben. Allerdings bleibt auch die Frage, ob es nicht ein viel simplere, ja geradezu banale Erklärung für die damaligen Vorfälle gibt - und die wäre schlicht und einfach: bürokratische Unfähigkeit, Schlamperei, Routineversagen eines riesigen Geheimdienst- und Polizeiapparats. Dieser Apparat hätte gerade wegen seiner Größe und Macht versagt. Die USA hätten sich in diesem Zusammenhang als "Riese" erwiesen, der vor lauter Kraft nicht mehr laufen kann.

Diese Variante wurde von einer bisher völlig unbekannten Amerikanerin aus der Provinz, einer Mutter von vier Kindern, losgetreten: FBI-Mitarbeiterin Coleen Rowley, die von sich selber sagt, sie sei "nicht immer so diskret, wie sie in ihrem Job sein sollte". Die studierte Juristin tat etwas, was in ihrem Metier alles andere als üblich ist: Sie schrieb einen 13 Maschinenseiten langen Brief an ihren obersten Vorgesetzten, den Direktor des FBI (Federal Bureau of Investigation), Robert Mueller, in Washington. Gleichzeitig übergab sie den Brief dem Geheimdienst-Ausschuß des Senats, womit sie sowohl ihren Vorgesetzten wie sich selber die Rückzugswege abschnitt.

Kern ihrer Aussage oder, besser gesagt, Anklage: zentrale Instanzen des FBI hätten Warnungen von Dienststellen in der Provinz, wonach sich ein mit Flugzeugen kombinierter Terroranschlag zusammenbraue, in den Wind geschlagen. Am 25. August 2001 hatte die FBI-Filiale in Minneapolis (Minnesota) den "französischen Marokkaner" Zacarias Moussaoui verhaftet, der sich als "Flugschüler" verdächtig gemacht hatte, weil er zwar lernen wollte, wie man einen Jumbo-Jet fliegt, sich aber nicht dafür interessierte, wie man die Maschine startet und landet. Moussaoui wurde wegen unberechtigten Aufenthalts - sein Visum war abgelaufen - verhaftet, doch weigerte sich die FBI-Zentrale, seine genaue Durchleuchtung zu genehmigen.

In ihrem ungewöhnlichen "offenen" Brief an FBI-Chef Mueller stellt "Special Agent and Minneapolis Chief Division Counsel" Coleen Rowley die Frage: "Warum? Warum sollte ein FBI-Agent willkürlich in einem Fall Sabotage üben?" Rowley berichtet, im Kreise ihrer Kollegen kursiere der Witz, das FBI sei von Spionen unterwandert, die - so wie der unlängst enttarnte Agent Robert Hansen, der zunächst jahrelang für Sowjets und anschließend für die Russen arbeitete - im Dienste Bin Ladens stünden.

Die FBI-Agenten in Minneapolis, so Frau Rowley, hätten Moussaoui "bereits in einem frühen Stadium als terroristische Bedrohung identifiziert", aber noch nach dem 11. September habe ein vorgesetzter Beamter der FBI-Zentrale die Durchsuchung des Computers des Verdächtigen zu verhindern versucht.

Der Brief der FBI-Mitarbeiterin aus der Provinz enthält schwerste Beschuldigungen an die Adresse ihres obersten Chefs. "Ich bin zutiefst besorgt," schrieb sie, daß es durch Sie und andere an der höchsten FBI-Spitze zu einer subtilen Verfärbung und Verzerrung von Tatsachen gekommen ist und immer noch kommt. Rowley vertritt die Auffassung, ein rechtzeitiges Verfolgen der gemeldeten Spuren und Personen hätte zur Festnahme eines oder mehrerer Tatverdächtiger noch vor dem 11. September 2001 führen können. Damit hätte man wahrscheinlich Menschenleben retten können.

Das US-Nachrichtenmagazin Time zieht Bilanz aus diesem in jeder Hinsicht sensationellen Brief: "Wenn Rowleys Behauptungen zutreffen ..., stellt ihr Brief eine kolossale Anklage gegen die Nachlässigkeit unserer wichtigsten Untersuchungs- und Strafverfolgungsinstitution dar - angesichts der größten terroristischen Operation, zu der es jemals auf dem Boden der USA gekommen ist." Es entstünden ernsthafte Zweifel, ob das FBI fähig sei, die Öffentlichkeit wirksam zu schützen.

Die Verfasserin dieser "Anklage" gibt zu erkennen, daß sie mit Repressalien ihrer Vorgesetzten rechnet. Aber natürlich muß auch bei ihrem "Auftritt" die Frage nach dem cui bono? - wem nutzt es? - gestellt werden. Wem nutzt es, eine der wichtigsten amerikanischen Institutionen als wirkungslos, dilletantisch und unfähig bloßzustellen? Soll damit die Gewichtung zwischen den verschiedenen Geheimdiensten neu verteilt werden - zu Ungunsten des FBI? Wird damit Präsident Bush entlastet, dem bereits vorgeworfen wurde, ahnungslos in den 11. September hineingeschlittert zu sein? Denn - wie konnte der Präsident etwas wissen, wenn die entsprechenden Informationen bereits im Vorfeld abgefangen und nicht weitergeleitet wurden?

Der Romley-Brief kommt jedenfalls jenen Kräften gelegen, die eine weitere Verschärfung des Anti-Terror-Kurses der US-Administration ankündigen - zugleich aber auch eine weitere Intensivierung des Terrors erwarten. So sprach der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz von "neuen und schlimmeren" Terrorakten, auf die man sich gefaßt machen müsse. Der 11. September sei nur eine "Vorwarnung" für weit Schlimmeres gewesen.

Laut einer Meinungsumfrage des US-Fernsehsenders CNN glauben inzwischen 60 Prozent der US-Amerikaner nicht an einen Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus. 40 Prozent glauben, daß keiner - weder die USA noch die islamistischen Terroristen - sich durchsetzen könnten. Damit gewinnt der 11. September nachträglich eine zusätzliche dramatische Dimension: Die bezieht sich auf das veränderte Selbstgefühl der Amerikaner.


 
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