© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/02 31. Mai 2002

 
Europäisches Normalmaß
Zwei Neuerscheinungen zur politischen Ideengeschichte der Nation
Matthias Bäkermann

Vor zwanzig Jahren erschien Thomas Nipperdeys Epos zur deutschen Geschichte von 1800 bis 1866: "Bürgerwelt und starker Staat". Bis zum frühen Tod des Münchner Historikers (14. Juni 1992) folgten noch zwei Bände, die das "lange 19. Jahrhundert" bis zum Untergang der Hohenzollern-Monarchie verfolgten.

An dieser für das heutige Bildungswissen fast kanonischen Trilogie, die in großen Synthesen die Erträge der deutschen Historiographie seit 1945 zusammenfaßt, dabei Politik, Ökonomie, Sozial- und Ideologiegeschichte verklammernd, ist heute jeder weitere Beitrag zur Geschichte des 19. Jahrhunderts zu messen. Also auch der der Bielefelder Historikerin Hedda Gramley, die sich einer Gruppe von Theologen, Historikern und Nationalökonomen widmet, die sie uns als "Propheten des deutschen Nationalismus" zwischen der Märzrevolution (1848/49) und der "Entliberalisierung" der Reichspolitik im Zuge von "Gründerkrach" und Bismarcks Sozialistengesetz (1878/80) präsentiert.

Gramley untersucht die Werke von knapp dreißig Professoren unter dem Aspekt, welchen Beitrag sie zur Herausbildung und Verbreitung des "polyvalenten Nationalismus", zum "Nationalkonstrukt" der Deutschen geleistet haben. Unter den Gelehrten befinden sich Majestäten ihres Faches wie der Kirchenhistoriker Karl von Hase und der Nationalökonom Karl Knies, aber auch weit über ihre engen Disziplingrenzen bekannte Exponenten des Frühliberalismus wie Friedrich Christoph Dahlmann, Paulskirchen-Honoratioren wie Johann Gustav Droysen oder der vornehmlich wegen seines "Antisemitismus" im historischen Bewußtsein konservierte Berliner Historiker Heinrich von Treitschke. Den meisten Namen begegnen wir bereits bei Nipperdey. Und damit beginnen die Kalamitäten von Gramleys Opus. Die Verfasserin betont zwar zu Recht, daß primär der Anteil der Nationalökonomen unter ihren Probanden am "Nationsbildungsprozeß" noch nicht hinreichend analysiert ist, doch von den Historikern vom Format Droysens oder Treitschkes wird sich das nicht mehr sagen lassen. Selbst für die Theologen muß sie einräumen, daß die "Vielzahl der Aufsätze" des Münchner Troeltsch-Herausgebers Friedrich Wilhelm Graf sowie einschlägige Studien seines Kollegen Gangolf Hübinger das Terrain schon ideengeschichtlich abgesteckt haben. Desweiteren ist nicht zu übersehen, daß gerade die sozialhistorische Fundierung des bildungsbürgerlichen "Professoren-Nationalismus" und seine Sinnstiftungsfunktion, auch dessen integrative, zugleich ausgrenzende Dimension bei dem philosophisch wie theologisch sich über den Durchschnitt seiner Kollegen erhebenden Nipperdey nachgelesen werden kann. Ebenso wie die auf die Genese des Nationalismus als "politische Religion" konzentrierte Verschmelzung von Nationalismus, Religion und Kultur ("der Nationalgeist als Klammer für Staat und Kirche")mit der Ausformung ihrer "antisemitischen" Derivate.

Gramley zeichnet insoweit nur dessen Linien nach und schafft dafür mit vielen Zitaten neues Anschauungsmaterial. Der Ansatz hingegen, den sie selbst für originär hält, nämlich ihr mentalitätsgeschichtliches Konzept, gelangt nie zu begrifflicher Klarheit und folglich auch nicht zu methodischer Fruchtbarkeit. Was erfahren wir aufgrund dieser verschwommenen Mentalitätsgeschichte, was wir nicht aus der so intensiv erforschten Sozialgeschichte der deutschen Bildungselite schon wüßten? Angesichts solch ambitionierter Ziele, die dann im Forschungsvollzug leider nur allzu viel Bekanntes und gar Redundantes zeitigen, lobt man sich die gute alte Ideengeschichte, wie sie der Frankfurter Nordist Klaus von See in der überarbeiteten Fassung seines Büchleins über "Die Idee von 1789 und die Ideen von 1914" aus dem Jahr 1975 vorlegt. Im Durchgang durch die politische Ideologiegeschichte des 19. Jahrhunderts, bei der wir natürlich wieder auf Männer wie Dahlmann und Treitschke treffen, versucht von See die These zu belegen, daß sich die nationalliberale "korporativ gebundene Freiheit" bis 1914 in ihr genaues Gegenteil, nämlich in die Idee der Gemeinschaft verkehrte, in der das Volk alles und das Individuum nichts gewesen sei.

Wie stets bei solchen wie ein Universalschlüssel funktionierenden Thesen, gewinnt auch von Sees Darstellung Plausibilität durch stringente Selektion. So wird die universalistisch-kosmopolitische Orientierung des deutschen Nationalismus beharrlich ignoriert. Oder die Minderheitenfrage des Zweiten Reiches (Elsässer, Dänen, Polen) erheischt eine Aufmerksamkeit, die ihr Zeitgenossen nicht zubilligten. Gegenüber solchen Vereinfachungen fällt dann aber positiv auf, wie differenziert von See den wilhelminischen Nationalismus, die "Ideen von 1870/71" behandelt. Dabei bezieht er sich auf den Vergleich mit Frankreich, um Korrekturen am Zerrbild vom deutschen "Sonderweg" der "Militarisierung" und "Demokratiedefizite" anzubringen. Dafür genügt fast der Hinweis auf das gern zitierte Detail der preußischen Hof-Rangliste, wo die inaktiven "Generallieutnants" weit vor den Universitäts-Rektoren rangierten. Ein vermeintlich schlagender Beweis für den preußischen Primat des Militärs. Nur sah das im republikanischen Frankreich nicht anders aus: Bis 1907 sei es dort selbstverständlich gewesen, daß die Militärs vor zivilen Repräsentanten rangierten. Was so eigentümlich "preußisch-militaristisch" erschien, war also im europäischen Rahmen ein ganz "normales" Phänomen.

Man kann natürlich auch gegen von See einwenden, daß er dem Nipperdey-Kenner kaum etwas Neues biete. Aber im Gegensatz zu Gramley prätendiert seine Konzentration auf das "völkisch-nationale Denken" dies auch nicht, und von See strukturiert sein Material in so ansprechender Weise, daß die belehrende Lektüre zum Vergnügen wird.

Hedda Gramley: Propheten des deutschen Nationalismus. Theologen, Historiker und Nationalökonomen (1848-1880), Campus Verlag, Frankfurt 2001, geb., 449 Seiten, 51 Euro

Klaus von See: Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2001, 212 Seiten, Abb., 20 Euro


 
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