© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/02 31. Mai 2002

 
CD: Weltmusik
Karneval
Walter Thomas Heyn

Nun ist er wieder durch Berlin getobt, der "Karneval der Kulturen": ein unüberhörbares Multi-Kulti-Spektakel aus der Kategorie "Hauptstadt-Event". Wenn wir die menschliche Grundsehnsucht nach Glück, aber auch nach der Erfüllung des eigenen Daseins mit sinnstiftenden Inhalten voraussetzen, liegt der Schluß nahe, daß hier und bei anderen ähnlich gelagerten Events dieses menschliche Streben benutzt, scheinbar restlos gemeinschaftsstiftend erfüllt, in Wirklichkeit aber in eine allumfassende, aber für den Einzelnen völlig bedeutungslose "Party" kanalisiert wird. Das richtige Leben im falschen suchen, nannten frühere Kritiker der Pop-Musik die heute immer noch vorherrschende Ersatzbefriedigung junger Leute, die keinen Bock auf Bildung und Karriere hatten und lieber im Rock 'n' Roll-Zirkus mittaumelten.

Spaß und Entspannung gehören aber natürlich auch zum Leben und deshalb folgen hier einige Tipps für musikalische Alternativen: American Polka (old tunes & new sounds) vereint 25 Edelsteine dieser Musikrichtung von ganz brav bis unglaublich schräg. Polka ist in den Staaten eine Chiffre für das ganze Spektrum der Tanzmusik der Einwanderer aus Zentraleuropa. Und für echte Fans ist Polka noch mehr: ein Seelenzustand, eine Gemütsverfassung, ein Stück imaginärer Heimat im multikulturellen Babylon von Amerika. Es ist ein Sound, der den Wurzellosen ein Gefühl von Herkunft und Geschichte vermittelt, und damit eine Spur von Identität. Bevor die Polka in Amerika Triumphe feierte, hatte sie schon in Europa eine steile Karriere absolviert. Der flotte Paartanz war um 1830 in Böhmen entstanden, wobei das Wort "Polka" schlicht "polnisches Mädchen" bedeutet. Bald befand sich ganz Europa im Polka-Rausch. Die Auswanderungswelle spülte im 19. Jahrhundert die Begeisterung nach Amerika.

Bands mit sonderbaren Namen beherrschen die Szene, zum Beispiel The Polkaholics, eine Heavy-Rock-Band um den Polka-Guru Don Hedecker, die Brave Combo von Carl Finch, die einen wilden Rock-Mix aus Cha-Cha-Cha, Twist, Salsa und Polka anrührt und vor allem Frankie Yankovic, dem Erfinder des legendären slowenischen "Cleveland-Stils" (Trikont US-0289 / Internet: www.Trikont.de ).

Tanguedia - dieser Titel ist Programm, denn das Ensemble Tanguedia widmet sich dem Tango Nuevo des legendären Astor Piazzolla, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als der Tanguero schlechthin galt. Der unvergleichliche Siegeszug des Tangos während der letzten zwei, drei Jahrzehnte geht in erster Linie auf ihn, seine Konzerte, seine Kompositionen und seine Platten zurück. Aber das war nicht immer so. Piazzolla wurde beschimpft und bedroht und lebte einige Jahrzehnte außerhalb seiner Heimat. An seinem enormen Erfolg beim Publikum änderte das zum Glück nichts.

Piazzollas erklärtes kompositorisches Ziel war nicht der getanzte Tango aus den Kneipen und Night Clubs von Buenos Aires, sondern eine Kunstform, die ihre Wurzeln nicht leugnet, aber auch Einflüsse der Klassik und des Jazz verarbeitet. Dabei gab er zeitweise sogar den typischen althergebrachten Rhythmus auf und schuf den Tango Nuevo. Von diesem Konzept ließ sich Jochen Roth bei seinen Transkriptionen für Violine, Akkordeon, Gitarre und Kontrabaß inspirieren. Die vier brillanten Musiker - Winfried Grabe (Violine), Andrea Carola Kiefer (Akkordeon)  , Jochen Roth (Gitarre) und Pál Sanda (Kontrabaß) erweisen sich gegenüber dem schier übermächtigen Vorbild durchaus als ebenbürtig, insbesondere die virtuose Gitarrenarbeit von Jochen Roth setzt überzeugende Akzente auf einer rundum gelungenen Veröffentlichung des innovativen Altenburger Labels Querstand im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad (VKJK 0126 / Internet: www.querstand.de )


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen