© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/02 31. Mai 2002

 
Im Dienste des Verbrauchers
Sprache als Sprengstoff: Plädoyer gegen eine übertrieben lesefreundliche Schreibkultur
Silke Lührmann

Der Leser hat immer recht", mahnt Wolf Schneiders Fibel "Deutsch für Profis" in Abwandlung der goldenen Regel einer völlig anderen Branche: "Der Kunde ist König", und zitiert als Kronzeugen flugs den alten Goethe herbei: "Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben." Der Leser, so führt Schneider aus, stelle "beim ersten flüchtigen Blick auf einen Zeitungsartikel eine unbewußte Kosten-Nutzen-Erwägung an: Wieviel Zeit und wieviel Energie werde ich für die Lektüre aufwenden müssen, und welcher Nutzen, welche 'Belohnung' erwartet mich dafür? Haben Placierung, Aufmachung und Überschrift ihn dafür gewonnen, mit dem Lesen zu beginnen, so setzt sich die Kosten-Nutzen-Analyse trotzdem ständig fort: Werde ich zum Weiterlesen animiert, weil der Inhalt genügend interessant, der Stil genügend attraktiv und eingängig ist, damit ich in vernünftiger Zeit mit wenig Plage zu meinem Nutzen komme?"

Ganz falsch ist das nicht - zumal als Hinweis für Journalisten und die Verfasser von Gebrauchsanleitungen -, ganz unproblematisch auch nicht. Denn was bedeutet die Allmacht des Normalverbrauchers, dieses Gewohnheitstieres, dessen (gottlob steuerbares) Konsumverhalten die Märkte zum Erbeben bringt? Wenn er über die Einschaltquoten vom Sofa aus Fernsehsendungen absetzt, ist das sein gutes Recht, sein demokratisches Mitspracherecht nämlich. Erkenntnis und ihre Vermittlung aber ist kein demokratisches Unterfangen, sondern ein einsames, eigennütziges: Mitsprechen darf man nicht als Couch-Kartoffel durch den Griff zur Fernbedienung.

"Make it new!" riet dagegen der amerikanische Dichter Ezra Pound. Ihn freilich diskreditiert - im Gegensatz zum Musterbürger Goethe - sein Flirt mit dem Faschismus, der es nicht nur semantisch, sondern auch politisch neu machen wollte und das Alte dabei ausrottete. Mittlerweile ist auch die Erneuerung gezähmt, heißt "Innovation" und hat nur noch in der Wirtschaft Bleiberecht.

Handbücher und Korrespondenzkurse lehren angehende Bestseller-Autoren, wie sie sich und ihre Ideen attraktiv zu verpacken haben: auffällig, doch gefällig. Selbst in den heiligen Hallen der Philologie walten seit Jahrzehnten jene Schlangenbeschwörer eines giftigen Zeitgeistes, die Wirkungs- oder Rezeptionsästhetiker, deren Lehre den Konsumenten privilegiert und den künstlerischen Schöpfungsakt als "Produktion" abtut. Mehr und mehr weicht der deutsche Begriff der Darstellung - der einzig die Vor-Stellung vorangeht - der angelsächsischen "Repräsentation": Literatur als Stellvertretung für die Meinung oder nur den Geschmack einer Mehrheit. Der Schreiberling ist zum Dienstleister geworden, der eine nachgefragte Ware zu liefern hat, weiter nichts. Kein Wunder, daß ein Wortkünstler wie Charles Bukowski lieber bei der Post Nachtwache schob, statt sich als "Zeitungshure" zu verdingen!

Mehrheiten lassen sich zwar - in ihren Kaufgewohnheiten genauso wie in politischen Entscheidungen - unschwer beeinflussen, und jede Re-Präsentation birgt in ihrer ersten Silbe eine subversive Sprengkraft, die dem Kunden wie dem Wähler aber zumeist unterschlagen wird. Sie bildet keineswegs mimetisch ab, sondern spiegelt wider: verzerrend, entstellend, im Gegenlicht der Wiedergabe.

Sprache ist eine Währung, auf die man sich geeinigt hat, um miteinander verhandeln zu können. Sie ist ähnlichen Kreisläufen von Inflation und Reform unterworfen. Daß sie - wie jede andere Währung auch - Falschgeld ist, bemalte Papierfetzen und Metallstücke und zunehmend nur noch Ziffernreihen, die von einem Computerbildschirm zum anderen flackern, das merken wir nicht mehr, weil wir ohne sie gar keinen Handel treiben könnten.

Geld - zumindest das altmodische, prä-virtuelle Geld - verfügt über eine Art Materialität, ist aus Muscheln oder aus Glasperlen, aus Metall oder aus Papier gemacht. Wörter kann man nicht anfassen und schon gar nicht die Hand um sie schließen. Man kann sie nur abnutzen, bis sie schäbig werden. Sprache ist System pur: nur der Willkür ihres eigenen grammatischen Regelwerkes hörig, so wertfrei wie wertlos: Sie macht weder satt noch warm, dafür ist sie eine unendliche Ressource - die einzige. Ein so flüchtiger (Nicht-)Stoff muß immer explosiver werden, je mehr Raum wir um ihn herum vermessen.

Kunst ist, wie ihr Name schon sagt, künstlich. Auch Lebenswirklichkeit ist künstlich, obgleich ihr Name das verschweigt. Kunst kann immer zwei Wege gehen - mindestens zwei: Sie kann unsere Gewöhnung an die unnatürlichen Grenzen der Lebenswirklichkeit affirmieren oder sabotieren. Sie kann menschgemachte Mauern mit Stacheldraht garnieren oder durchlässig zeigen. Sie kann vorführen, wie wir leben, oder erzählen, was wir dabei verpassen. Kunst kann verdichten, sie kann verfremden, befremden, entfremden; sie kann sozialisieren, aber auch asozial sensibilisieren. Stilbrüche sind zunächst falsch angewandte Wörter. Doch können sie Ritzen im Zementgefüge der sekundären Welt sein, die Augenblicke klarer Sicht gestatten; St.-Andreas-Gräben: Verwerfungen, in denen aller schöne Schein, aller fabrizierte Traum katastrophisch verschwindet; Schadstellen, die Luft in das Vakuum lassen.

"Leserfreundliche" Sprache aber ist nichts als Benutzeroberfläche. Man übersieht sie, solange sie nur tut, was man von ihr erwartet. Erst wenn das Datenverarbeitungsprogramm sich aufhängt: wenn das Gehirn stolpert, fängt es an zu arbeiten. Ein Austausch zwischen Leser und Schreiber entzündet sich dort, wo der Text - beim Schreiben wie beim Lesen - Reibungen erzeugt, wunde Stellen, die nicht aufhören zu jucken. Dem Leser "immer recht" zu geben, bedeutet, nur zu schreiben, was ihm keine Hirnhaut abschürft, sondern schon Geglaubtes bestätigt und wiederholt. Das ist professionell, gewiß, gut für die Auflagenzahl, und verarmt den Geist.

Wer eine Million Leser erwartet oder auch nur einen einzigen, sollte pfleglich und verantwortungsbewußt mit der Sprache umgehen, sie nicht ver- oder mißbrauchen. Noch darf er vergessen, daß Worte - nicht mehr und nicht weniger - Versuche sind, sich Wahrheiten anzunähern. Dann kann der Leser sich leisten, dem Text zu vertrauen, und das heißt: den Schreiber recht haben zu lassen.


 
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