© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/02 31. Mai 2002

 
"Autorität des Staates wiederherstellen"
Frankreich: Präsident Chirac und seine Minister setzen im Wahlkampf auf das Thema Innere Sicherheit
Charles Brant

Nachdem er sich die Präsidentschaft für eine zweite Amtszeit gesichert hat, peilt Jacques Chirac die Par-lamentswahlen an und befleißigt sich, den psychologischen Rückenwind seiner Wiederwahl zu verstärken. Dabei geht es ihm um zweierlei: zu zeigen, daß er nach wie vor die Oberhand hat, und so zu tun, als wüßte er eine Patentlösung für das Problem der Inneren Sicherheit.

Am Samstag, den 11. Mai war Chirac im Stadion zugegen, als Fans der korsischen Mannschaft SEC Bastia beim Pokalendspiel gegen den bretonischen FC Lorient die Marseillaise mit Pfiffen und Buhrufen begleiteten. Chirac verließ wütend die Tribüne und ließ sich erst dazu herab, seinen Platz wieder einzunehmen, nachdem sich der Präsident des Fußballverbandes bei ihm entschuldigt hatte. Fünf Tage später nahm er seinen Amtsantritt zum Anlaß für eine Absichtserklärung: Er werde die "Autorität des Staates wiederherstellen". Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand in der Einrichtung des Conseil de sécurité intérieure (Rates für Innere Sicherheit/CSI), der dem Präsidenten direkt untersteht. Des weiteren kündigte er an, das versprochene Gesetz zur Sicherheit, das einen Teil seines Wahlprogramms ausmachte, solle Ende Mai im Ministerrat debattiert werden.

Chirac, der smarte Demagoge: So kannte man ihn bislang nicht. Das kriegerische Gehabe hat er bei seinem neuen Vorbild George W. Bush abgeguckt. Ziel dieser Scharade ist, sein erbärmliches Bild in Vergessenheit geraten zu lassen, das er während der Kohabitation mit dem sozialistischen Premier Lionel Jospin bot. Nur so kann er die Franzosen überzeugen, ihm für die nächsten fünf Jahre eine Mehrheit zu sichern. Gelingen wird ihm dies nur, wenn er Lösungen für die brennendste Sorge des Volkes anbietet: die Innere Sicherheit.

Die wichtigsten Nebenrollen hat Chirac mit zwei Gefolgsmännern besetzt. Während der nach seiner Wiederwahl ernannte rechtsliberale Premier Jean-Pierre Raffarin den "neuartigen Regierungsstil" verkörpert - provinziell und offen für die Sorgen des "kleinen Mannes" -, soll der Neogaullist Nicolas Sarkozy als Minister für Innere Sicherheit die "harte Hand" des Präsidenten spielen. Seit dem 15. Mai ist er per Dekret des Präsidenten für die Einsätze der Gendarmerie zuständig, die aber nach wie vor dem Verteidigungsministerium untersteht. Die Gendarmerie ist ein einzigartiges Erbe des napoleonischen Zeitalters, das Frankreich mit Belgien teilt: eine den Streitkräften zugehörige Polizei.

Sarkozy hat ein seltenes Talent, allgegenwärtig zu sein: auf Pariser Wachen, im umstrittenen Asylantenlager Sangatte nahe des Eurotunnels unter dem Ärmelkanal, mitten in der Nacht vor der brennenden israelischen Botschaft. Am 22. Mai feierte er in Straßburg die Einrichtung von 28 Regionalen Interventionsgruppen (GIR), denen Polizisten, Gendarmen, Zollbeamte und Steuerfahnder angehören. Bei dieser Gelegenheit konnte Sarkozy gleich einen ersten Triumph verbuchen: Eine GIR war erfolgreich gegen ein Netz von Elektrogeräte-Hehlern vorgegangen, nachdem am 19. Mai ein vierjähriges Kind in einem multikulturellen Straßburger Banlieues ums Leben gekommen war.

Mit über tausend Autoverbrennungen im Jahr hält die elsässische Hauptstadt einen traurigen Rekord. Straßburg war auch der Schauplatz der Ohrfeige, die der liberale UDF-Präsidentschaftskandidat François Bayrou in Anwesenheit von Journalisten einem jugendlichen Taschendieb erteilte. Die "Hauptstadt Europas" ist Symbol und heiß umkämpftes Pflaster zugleich. Bei den Regionalwahlen 2001 verlor Catherine Trautmann die einst sozialistische Hochburg an die von Fabienne Keller (UDF) und Robert Grossmann (RPR) geführte bürgerliche Liste. Grossmann ist ein enger Parteifreund Chiracs. Und schließlich sollte man nicht vergessen, daß Straßburger bei der Präsidentschaftswahl 2002 überdurchschnittlich für die Rechten Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret stimmten.

Unter ihrem neuen Chef François Hollande haben die Sozialisten nur Spott für die GIR übrig. Die Idee stamme von Sarkozys Vorgänger, dem Sozialisten Daniel Vaillant, der für "sensible Zonen" die Nahbereichspolizei (la police de proximité) ersann. Einige Intellektuelle warnen vor einer "fortschreitenden Lepenisierung des Bewußtseins" - dabei gestehen selbst linke Publizisten inzwischen die Existenz jener "rechtlosen Zonen" ein, die Le Pen schon vor zehn Jahren beklagte. Längst gehört die Kriminalität zum Alltag. An einem einzigen Tag, dem 23. Mai, wurden in Lyon neun Schüler im Alter von unter vierzehn Jahren der Vergewaltigung und in Angers vierzig Menschen der Kinderschändung angeklagt. Am selben Tag kam es im Marne-Tal beim Überfall auf einen Geldtransporter zu einer Schießerei. In der Vorwoche wurde Toulouse Schauplatz von Straßenunruhen.

Die Kriminellen werden immer unverschämter, weil Verbrechen allzu oft ungestraft bleiben. Aus Angst, das Boot ins Wanken zu bringen, wird in "heiklen Vierteln" kaum noch eingegriffen. Die unkontrollierte Einwanderung gibt nicht nur dem Islam, sondern auch der Verachtung für europäische Normen und Lebensweisen Vorschub. Gewerkschaftliche Grabenkämpfe und übertrieben hierarchische Strukturen lähmen die Polizei zusätzlich. Kein Wunder also, daß sie der Lage nicht gewachsen ist. Mit Ausnahme einiger weniger Eliteeinheiten fehlt den französischen Polizisten jegliche Ausrüstung, Erfahrung und Ausbildung, um in städtischen Guerillakriegen bestehen zu können. Des weiteren stellt sich die Frage, welcher Richter überhaupt noch bereit ist, das Strafgesetz anzuwenden, wenn ein Fall vor Gericht kommt. Dem Geist von '68 verhaftet, neigen sie dazu, Kriminalität als eine unvermeidliche Folgeerscheinung der Armut abzutun. Eric Halphen, der in der Parteispendenaffäre um Präsident Chirac ermittelte (die JF berichtete), hat seiner Wut über die Aushöhlung des Justizsystems freimütig Luft gemacht.

Nach Machiavelli zeichnet den Staat aus, die Gewalt über ein bestimmtes Volk und auf einem vorgegebenen Territorium auszuüben und zu kontrollieren. Im heutigen Frankreich hat der Staat diese Funktionen preisgegeben. Eine neue Moral, die aufrechten Bürgern die Selbstverteidigung und den Waffenbesitz verbietet, während sie Rauschgift entkriminalisiert und Drogenhändlern Straffreiheit gewährt, verschlimmert die Lage noch. Der Zeitgeist gebietet, Verbrecher weder zu bestrafen noch aus der Gesellschaft auszuschließen.

"Die Staatsobrigkeit wiederherzustellen bedeutet, den Zusammenhalt der Nation sicherzustellen." So sehr derlei Floskeln Präsident Chirac am Herzen liegen mögen, ihre Beschwörung ist vergebens. Die "Verwilderung", die der Philosoph Alain Finkielkraut ausgemacht hat, ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß das "republikanische Modell" Staub und Asche ist. An seiner Stelle entwickelt sich eine "Dynamik der Verunsicherung", die weit über die "rechtlosen Zonen" hinausgeht. Verbrechen finden nicht nur in den berüchtigten Banlieues (Vorstädten) statt, sondern mitten in Paris auf offener Straße, in der Métro, in den Schulen, in Vierteln, die bislang als sicher galten. Gewalttaten gegen Mitbürger sind nicht die Folge, sondern die Ursache der Zerstörung des sozialen Zusammenhaltes. Ob Jospin dies erkannt hatte, als er im Wahlkampf "Naivität" bekannte?

Man kommt kaum umhin, sich mit Eric Werner - der ein Buch zum Thema "Nach der Demokratie" ("L'Après-Démocratie", L'Age d'homme, Lausanne, 2001) geschrieben hat - zu fragen, inwieweit die politische Klasse diese zwischenmenschliche Gewalt mit ihrem üblichen Zynismus instrumentalisiert, um ein "Klima des Terrors" zu schaffen.

Eins ist sicher: Chiracs fünfjährige Amtsperiode wird bei weitem nicht ausreichen, Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen. Für eine bürgerliche Parlamentsmehrheit könnte es aber im Juni reichen: eine aktuelle Umfrage des IFOP-Instituts ergab, daß derzeit 51 Prozent der Franzosen mit Chirac zufrieden sind, drei Prozent mehr als im April. Mit dem drei Wochen amtierenden Premier Raffarin sind sogar 60 Prozent der Befragten zufrieden - CSI und GRI sei Dank.


 
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