© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/02 31. Mai 2002

 
"Wir wollen keine Sonderrolle"
Uri Avnery, israelisicher Publizist und Friedensaktivist, über Antisemitismus und die Kritik an Israel
Moritz Schwarz

Herr Avnery, in Deutschland ist durch ein Interview unserer Zeitung mit dem syrischstämmigen Landtagsabgeordneten Jamal Karsli ein bereits schwelender Streit um die Frage, welche Kritik an der Politik Israels erlaubt ist, ausgebrochen. Der Streit ist inzwischen vor allem in Gestalt einer Auseinandersetzung zwischen dem FDP-Politiker Jürgen Möllemann und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Michel Friedman, eskaliert. Die Frage, die derzeit in Deutschland diskutiert wird, lautet: Darf man Israel kritisieren und wenn ja, in welchem Maße?

Avnery: Man darf Israel nicht nur kritisieren, meiner Ansicht nach muß man es sogar tun. Israel ist ein Staat wie jeder andere, und wir sind ein Volk wie jedes andere. Wir wollen keine Sonderrolle. Denn jede Art von Sonderbehandlung beinhaltet schließlich schon eine Form von Antisemitismus.

Eine positive Sonderbehandlung jüdischer Angelegenheiten ist also ein Ausdruck von Antisemitismus?

Avnery: Natürlich, denn solch eine Sonderbehandlung geschieht schließlich, weil wir Juden anders angesehen werden, als andere Menschen. Das lehne ich ab.

Es gibt allerdings auch Kritik, die nicht mehr statthaft ist. Wo beginnt also der Antisemitismus in der Debatte?

Avnery: Die Frage ist, von welchem Standpunkt aus übt man Kritik. Bejaht man etwa das Existenzrecht Israels oder zielt die Kritik darauf, dies Israel abzusprechen. Wenn man sein Land liebt, dann muß es auch gestattet sein, die Politik seiner Regierung zu kritisieren.

Antisemitisch wäre demzufolge Kritik, die Israel als Staat bekämpft?

Avnery: Sie denken da in einem verhängnisvollen Dualismus. Man sollte nicht zwischen Israel und Palästina wählen, weil meiner Ansicht nach die wahren Interessen Israels und Palästinas beinahe identisch sind: Beide Völker brauchen den Frieden! Und die große Mehrheit unseres Volkes ist auch bereit, die besetzten Gebiete zurückzugeben, Jerusalem zu teilen und einem Palästinenser-Staat zuzustimmen. Ariel Scharon genießt zwar als Person das Vertrauen der Mehrheit der Israelis, gleichzeitig jedoch mißbillgt die Mehrheit die inhaltlichen Elemente seiner Politik. So gab es etwa vor wenigen Tagen in Tel Aviv eine Demonstration mit 70.000 Menschen, die für eine Rückgabe der besetzten Gebiete votierten.

Ihre Familie ist 1933 aus Deutschland geflohen, Sie selbst haben als Zehnjähriger die Stimmungsmache der Nationalsozialisten gegen die deutschen Juden erlebt. Es gibt also eine "Form der Kritik", die den Tatbestand des Antisemitismus erfüllt.

Avnery: Natürlich gibt es auch Antisemitismus, aber ich warne davor, das mit Kritik an Israel gleichzusetzten. Dann wären wir, die politischen Gegner Scharons hier in Israel übrigens auch alle Antisemiten. Nein, Antisemitismus hat Merkmale, die klar erkennbar sind, Kritik an Israel zu üben, gehört allerdings nicht dazu.

Sondern?

Avnery: Antisemitismus ist eine Art Geisteskrankheit, die man instinktiv erkennt. Wir alle kennen klassische Beispiele solcher antisemitischer Propaganda. Außerdem vergessen all jene, die nur allzu leichtfertig überzogene Antisemitismus-Vorwürfe austeilen, die Gefahr, daß dann die wahren Antisemiten unerkennbar werden.

Jürgen Möllemann wirft Michel Friedman vor, dessen überzogene Antisemitismus-Vorwürfe verursachten erst Antisemitismus.

Avnery: So formuliert, kann das leicht zu der Schlußfolgerung führen, die Juden seien selbst Schuld am Antisemitismus ...

Möllemann zielt nicht auf die Juden, sondern auf den Mißbrauch des Antisemitismus-Vorwurfes.

Avnery: Ich habe das auch nicht so verstanden, ich meine nur, diese Formulierung ist gefährlich.

Der Deutsch-Syrer Jamal Karsli warf - damals noch Abgeordneter der Grünen - der israelischen Armee während der Operation "Schutzschild" in Transjordanien vor, "Nazi-Methoden" anzuwenden. Daraufhin wurde er erstmals des Antisemitismus geziehen. Zu Recht?

Avnery: Ich lehne jede Funktionalisierung des Holocaust zu politischen Zwecken unbedingt ab. Man kann Israel vorwerfen, es führe einen Kolonialkrieg im Westjordanland, oder man kann es der Apartheid zeihen, man kann sehr viele schwere Vorwürfe formulieren. Aber den Vorwurf "Nazi-Methoden" ins Feld zu führen, ist absurd. Der Holocaust war etwas geschichtlich Spezifisches, ihm fielen sechs Millionen Menschen zum Opfer. Diese Assoziation ist also maßlos überzogen.

Überzogen oder antisemitisch?

Avnery: Der palästinensische Intellektuelle Edward Said hat einmal gesagt, ein Araber könne sich nicht mit Israel auseinandersetzen, wenn er den Holocaust nicht versteht. Araber haben allerdings ein verständliches Problem damit, denn der Holocaust wird in der israelischen Propaganda gegen die Palästinenser verwendet: Das führt natürlich leicht zur arabischen Gegenreaktion, den Holocaust zu verharmlosen oder zu leugnen. Mit europäischem Antisemitismus hat das allerdings nichts zu tun.

Das heißt, die deutschen Kritiker spiegeln "ihren" europäischen Antisemitismus auf den Syrer Karsli, der tatsächlich "nur" typisch arabische Ressentiments hat?

Avnery: Ich weiß nicht, ob es im Fall des Herrn Karsli so ist oder nicht, denn ich kenne ihn nicht, aber ich kann es mir vorstellen. Ein Indiz wäre, daß die Formel, "Israel benutze 'Nazi-Methoden'" sehr häufig in arabischen Ländern zu hören ist, und Herr Karsli schließlich syrischer Abstammung ist.

Wären Sie kein Israeli, sondern ein nicht-jüdischer Deutscher, würden Sie bei Ihren Ansichten mit dem Vorwurf des Antisemitismus, des Rechtspopulismus und braunen Gedankenguts überschüttet werden.

Avnery: Ich glaube, Deutschland hat seine Vergangenheit noch nicht überwunden, daher dieser ungesunde Zustand, der jede normale Diskussion über den Palästina-Konflikt in Deutschland unmöglich macht. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich die Atmosphäre in meinem Land ablehnen, und ich hoffe, ich hätte den Mut, auch dann zu sagen, was ich hier und heute als Israeli vertrete.

Jüdische Institutionen genießen in Deutschland ein hohes moralisches Ansehen, inwieweit sind sie aber von der Politik der Regierung in Jeruslalem beeinflußt?

Avnery: Die israelische Botschaft in Berlin zum Beispiel ist heute schlicht eine Propagandazentrale der israelischen Regierung.

So wie das jede Botschaft ist.

Avnery: Im Prinzip ja, aber frühere israelische Botschafter hatten durchaus eigene Meinungen, mit denen sie auch nicht hinter dem Berg gehalten haben.

Dem Zentralrat der Juden in Deutschland werfen Sie "totale Einseitigkeit" vor.

Avnery: Ja, der Zentralrat ist leider eine Filliale der israelischen Botschaft in Berlin. Allerdings war auch das nicht immer so. Zu Zeiten Ignatz Bubis' wurde noch Kritik an der israelischen Politik geübt. Doch der jetzige Zentralrat scheint ebenfalls nur ein Propagandainstrument der Regierung Scharons zu sein. Soweit ich weiß, haben diese Leute keinerlei Beziehung zu liberalen Strömungen in Israel, geschweige denn zur israelischen Friedensbewegung.

Das heißt, Sie halten dasWirken des Zentralrates für geradezu unheilvoll, weil er den Deutschen unter Ausklammerung der gesamten gesellschaftlichen Breite ein falsches Bild von Israel vermittelt?

Avnery: Das ist leider richtig. Ich werde zum Beispiel immer wieder von liberalen jüdischen Kreisen nach Deutschland eingeladen, nie jedoch vom Zentralrat. Allerdings ist das nicht nur ein deutsches Phänomen, sondern in vielen Ländern so. Stets schweigen die organisierten jüdischen Gemeinden über die Politik der israelischen Regierung, was de facto einer Zustimmung gleichkommt. Das ist auch nicht verwunderlich, denn die israelischen Botschaften wirken bei den Wahlen stark in die Gemeinden hinein. Wer also die israelische Regierungspolitik deutlich kritisiert, der hat später bei den Wahlen in den Gemeinden keine Chance.

Sie sagten, Ignatz Bubis habe die Regierung in Jerusalem kritisiert.

Avnery: Dennoch gibt es natürlich selbständigere und unselbständigere Vorsitzende. Bubis gehörte zu ersteren, zumindest in der ersten Zeit.

Sie kritisieren aber auch die deutsche Regierung.

Avnery: Meine Organisation Gush Shalom, der Friedensblock, führt schon seit Jahren einen Boykott gegen die Erzeugnisse der Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen durch. So versuchen wir, die Siedlungspolitik zu stoppen. Doch die Erzeugnisse der Siedlungen werden auch nach Europa, etwa nach Deutschland exportiert. Dabei schließt der europäische Handelsvertrag mit Israel diese Produkte aus. Dennoch werden diese Produkte illegal nach Europa eingeschleust. Zwar versuchen die verantwortlichen Stellen seit Jahren, diesen Warenfluß zu verhindern, werden aber daran von den Außenministerien der europäischen Staaten, besonders Deutschlands gehindert. Das heißt: Europa finanziert die Siedlungspolitik mit etwa 200 Millionen Dollar im Jahr. Deutschland und Europa finanzieren eine Entwicklung, die zum Unglück Israels beiträgt, weil sie den Frieden verhindert.

Haben Sie Außenminister Joschka Fischer schon einmal darauf angesprochen?

Avnery: Ich habe ihn bereits mehrmals angesprochen, immer ohne Erfolg. Auf einer Veranstaltung in Tel Aviv erwiderte er nur lapidar: "Ich bin der deutsche Außenminister".

Was bedeuten soll...?

Avnery: Das heißt, er zieht sich darauf zurück, keine persönliche Meinung zu vertreten, sondern nur die Politik Deutschlands. Ich kenne Joschka Fischer bereits seit 1982 und bin sehr enttäuscht darüber, daß er heute eine so absolut amerikahörige Politik betreibt, statt Europa zu einer selbständigen und ausgeglichenen Politik zu führen.

Joschka Fischer war einst Gast auf PLO-Kongressen. Halten Sie es für möglich, daß er sich auf diese Art und Weise von seinem damaligen Verhalten entlasten möchte?

Avnery: Das kann ich nicht beurteilen, aber denken Sie daran, wie gern er sich früher mit Yassir Arafat hat fotografieren lassen. Als aber Arafat im April während der Operation "Schutzschild" in Ramallah belagert wurde, und wir von Gosh Shalom versucht haben, uns zwischen die Fronten zu stellen, da ist Joschka Fischer ferngeblieben. Die Amerikaner pflegen zu sagen, "A friend in need, is a friend indeed", also "Nur ein Freund in der Not ist ein wahrer Freund". Er hat sich nicht als Freund erwiesen.

War der Besuch des FDP-Parteichefs Guido Westerwelle Anfang dieser Woche in Israel nicht eine Gelegenheit, diese Kritik über andere Kanäle als den Kontakt zum Auswärtigen Amt in Deutschland zu lancieren?

Avnery: Der Besuch Guido Westerwelles und die Affäre um die Herren Möllemann und Karsli werden hier beinahe vollständig ignoriert, dafür interessiert sich hier kaum jemand. Allerdings hätte doch jede deutsche Partei die Möglichkeit, die wirkliche Situation in Israel und Palästina zur Kenntnis zu nehmen. Doch haben sie alle Angst davor, als antisemitisch bezeichnet zu werden. Schließlich ist diese Befürchtung allerdings auch begründet, wie die Affäre um die FDP leider zeigt.

Deutsche Politiker sind häufig nicht auf die Moral, sondern auf die Einhaltung einer "political correctness" fixiert. Zum Beispiel, was den angeblich richtigen Ton gegenüber Israel betrifft. Jeder Akteur in Deutschland ist dabei bemüht, eine jüdische Stimme zu finden, die ihm für sein Verhalten "Absolution" erteilt. Statt sich selbst den Herausforderungen zu stellen und sich um eine eigene Moral zu bemühen, sucht man Juden, die man befragen kann, und ist damit moralisch entlastet. Als Beispiel für diese deutsche Feigheit können Sie wahrscheinlich auch dieses Interview betrachten.

Avnery: Das ist in der Tat eine ungesunde Atmosphäre, die man auslüften muß, und ich kann nur hoffen, daß die Affäre Möllemann/ Karsli wenigstens dazu beiträgt, eine Diskussion über diese Probleme in Deutschland zustande zu bringen.

Geben Sie allerdings Gedankenfreiheit, dann wird diese Freiheit unweigerlich auch von echten Antisemiten genutzt werden. Auf diesen Einwand muß man vorbereitet sein.

Avnery: Natürlich, aber das muß man in Kauf nehmen.

Haben Sie Verständnis dafür, daß das die Juden in Europa kritischer sehen als Sie, der Sie in Israel leben?

Avnery: Ich verstehe das sehr gut, schließlich ist meine Familie selbst 1933 aus Deutschland geflohen, und es ist auch richtig, auf der Wacht zu sein. Aber ich glaube dennoch, daß dieses Phänomen im Europa von heute - wohl in der Erinnerung an die Vergangenheit - überschätzt wird. Der Antisemitismus ist heute keine wirkliche Gefahr mehr in Europa. Hinter jeder Ecke Antisemiten zu sehen, ist weder hilfreich noch gesund.

Sie nennen die Regierung Scharon "rechtsradikal". Ist das nicht auch wieder eine Stigmatisierung?

Avnery: Nein, das ist eine politische Beschreibung, denn in dieser Regierung arbeiten mindestens drei Minister, die ganz offen die Idee der ethnischen Säuberung propagieren. Und ich glaube nicht, daß Ariel Scharon von dieser Geisteshaltung weit entfernt ist.

Der Vertrag von Oslo und der Palästinenserstaat scheinen gescheitert. Die Zeichen stehen eher auf Krieg, denn auf Frieden. Haben Sie wirklich noch Hoffnung?

Avnery: Natürlich, denn beide Seiten wissen, daß sie letztlich gar keine andere Wahl haben, als am Ende Frieden zu schließen. Irgendwann sind die Völker nicht mehr länger bereit, den Preis für den Krieg zu zahlen. Die Regierungen kommen und gehen, aber die Hoffnung unserer beiden Völker auf Frieden bleibt.

 

Uri Avnery eboren 1923 in Beckum / Westfalen. Seine Familie floh 1933 aus Deutschland und wanderte nach Palästina aus. 1938 bis 1942 kämpfte Avnery in der jüdischen Untergrundorganisation Irgun.1948 diente er im ersten arabisch-israelischen Krieg in einer Kommandoeinheit und wurde zweimal verwundet. Der Journalist wurde 1950 Herausgeber und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Ha'alom Haze und machte sich als Essayist, Kolumnist und Autor zahlreicher Bücher einen Namen. 1965 bis 1981 war er Abgeordneter des israelischen Parlamentes. Bereits 1948 setzte sich Avnery für eine Aussöhnung mit den Palästinensern ein. 1974 war er der erste Israeli, der Kontakte zur Führungsebene der PLO knüpfte. 1982 traf er sich im belagerten Beirut als erster Israeli mit Yassir Arafat zum Gespräch. Er gründete verschiedene Friedensinitiativen, darunter 1993 den Friedensblock Gosh Shalom. Im vergangenen Jahr erhielt er den alternativen Friedensnobelpreis. Uri Avnery - inzwischen Kolumnist bei der angesehenen Tageszeitung Ma'ariv - lebt heute in Tel Aviv, und ist auch dem hiesigen Publikum durch seine Beiträge in deutschen Zeitungen bekannt.

 

weitere Interview-Partner der JF


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen