© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/02 31. Mai 2002

 
PRO&CONTRA
Familienwahlrecht einführen?
Johannes Schroeter / Josef Isensee

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen ... ausgeübt." So bestimmt es Artikel 20 des Grundgesetzes. Von vier Fünfteln des Volkes? Vom dem Teil, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat? "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."

Das Volk soll wählen, nicht nur ein Bruchteil desselben. Um so befremdlicher wirkt der Artikel 38. Er schränkt ein: "Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat." Warum nicht die Kinder? In der Verfassung findet sich kein Grund. Wohl steht dort noch: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich". Auch die Kinder? "Alle Menschen", sagt Artikel 3.

Es fällt schwer, einen Grund zu finden, warum junge Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Mangelnde Reife wird gerne angeführt. Aber wie definiert sich Reife, so daß sie niemand unter 18, aber jeder darüber besäße? Am ehesten läßt sich unser Wahlrecht als Entwicklungsprozeß verstehen. Anfangs war es eine Handvoll Kurfürsten, die den König wählte. Später wählten die reichen Männer, dann alle Männer, dann alle Erwachsenen. Jeder Fortschritt beruhte auf der Erkenntnis, daß der bisherige Status eine nicht rechtfertigbare Diskriminierung der Ausgeschlossenen sei. Jeder Fortschritt war aber auch begleitet vom Widerstand der bislang Privilegierten.

Wahlrecht für jeden Bürger - das ist der vollendende Schritt dieser Entwicklung. Erst dann hätten wir tatsächlich ein Allgemeines Wahlrecht. Natürlich gibt es Kinder, die mit dem Wählen überfordert sind. Aber so geht es Kindern mit vielen Rechten. Trotzdem haben sie Rechte. Und bis die nötige Reife da ist, vertreten die Eltern die Rechte ihrer Kinder. Wenn Kinder das Wahlrecht noch nicht selbst ausüben können, dann nehmen es ihre Eltern stellvertretend wahr: Familienwahlrecht. Erst dadurch bekäme jeder Bürger ein Stimmgewicht: Allgemeines Wahlrecht.

Prof. Dr. Johannes Schroeter ist bayerischer Landesvorsitzender des Familienbunds der Katholiken und Präsident des Vereins "Allgemeines Wahlrecht e.V."

Für ein Kinderwahlrecht spricht das Verfassungsprinzip der Allgemeinheit der Wahl. Diese bezieht sich auf die Gesamtheit der Staatsangehörigen. Zu diesen gehören auch die Kinder. Doch aus guten Gründen richtet das Grundgesetz eine Altersgrenze auf und knüpft die Wahlberechtigung an die Vollendung des 18. Lebensjahres. Denn wer noch nicht die Reife hat, seine eigenen Rechtsgeschäfte uneingeschränkt zu führen, hat auch nicht die Reife, über die Angelegenheiten des Staates mitzubestimmen.

Wenn das Wahlrecht dagegen statt den minderjährigen Kindern den Eltern zugeteilt würde, sie also, je nach Kinderzahl ein doppeltes, dreifaches et cetera Wahlrecht erhielten, ergäbe sich ein Widerspruch zum Verfassungsprinzip der Wahlrechtsgleichheit. Spräche man dagegen das Wahlrecht den Kindern selber zu und übertrüge seine Ausübung den Eltern als ihren Vertretern oder Treuhändern, so gäbe es eine Kollision mit dem Gebot der höchstpersönlichen Ausübung, das dem Grundgesetz eigen ist. Beide Konstruktionen erzeugen juristische Schwierigkeiten. Ein praktisches Problem träte hinzu, das Wahlrecht eines Kindes käme beiden Elternteilen gemeinsam zu. Was aber, wenn sie sich nicht einig sind über die Stimmabgabe? Soll jeder Elternteil ein halbes Stimmrecht erhalten? Soll ein Dritter entscheiden? Wenn ja, wer? Das Vormundschaftsgericht, eine staatliche Stelle, jedenfalls nicht. Die Schwierigkeiten zeigen, daß ein Familienwahlrecht in das Konzept des Grundgesetzes nicht paßt.

Befürworter eines Familienwahlrechts hoffen, daß es das politische Gewicht der familiären Interessen steigern könne. Das mag zutreffen. Das Grundgesetz macht sich diese zu eigen, indem es der Familie den besonderen Schutz der staatlichen Gemeinschaft zusagt. Doch deshalb sind die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten nicht behoben, die sich aus der Konzeption des Wahlrechts im Grundgesetz erheben. Denn das verfassungsrechtlich legitime Ziel rechtfertigt nicht verfassungswidrige Mittel.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee ist Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.


 
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