© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/02 24. Mai 2002

 
Ein radikal neuer Schritt
Geopolitik: Das Nato-Rußland-Treffen in Reykjavík offenbarte US-Interessen / Erweiterung schwächt Bündnis
Michael Wiesberg

Ganz erschrocken" sei Außenminister Joseph Fischer nach der Rückkehr von seiner jüngsten USA-Reise gewesen, berichtete der Spiegel letzte Woche. Der Grund: Zwölf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges hätten die USA die Nato offenkundig abgeschrieben. Nach Fischers Worten sei die "antieuropäische Stimmung" in Washington "weit verbreitet". Den Grünen-Politiker ängstigt vor allem die Vision einer "großen Hängebrücke, die sich über unsere Köpfe in Europa hinwegspannt, von der einsamen Supermacht (USA) hin zur ehemaligen Supermacht (Sowjetunion) und dann weiter in Richtung Delhi oder Peking". Außenpolitiker in Brüssel seien inzwischen der Überzeugung, daß die US-Strategen den Europäern nur nicht offen sagen wollen, daß die Nato für sie irrelevant geworden sei. Ihre Handlungen würden aber eine offene Sprache sprechen: die USA seien dabei, die Nato so lange aufzublähen, bis diese zwangsläufig handlungsunfähig geworden sei.

Was sich letzte Woche in der isländischen Hauptstadt Reykjavík abgespielt hat, kann durchaus als eine weitere Etappe hin zu einer Lähmung der Nato durch Überdehnung angesehen werden. US-Außenminister Colin Powel und seine 18 Nato-Kollegen sowie Rußlands Vertreter Igor Iwanow einigten sich auf ein neues Kooperationsforum: der neue Nato-Rußland-Rat soll den seit fünf Jahren bestehenden Ständigen Gemeinsamen Rat ersetzen. Die Russen sitzen in Zukunft also nicht mehr am "Katzentisch" der Nato, sondern steigen zu einem gleichberechtigten Mitglied auf. Lautete die bisherige Lesart "19+1" (Nato plus Rußland), so heißt sie jetzt schlicht: "20". Rußland wird in Zukunft als gleichberechtigtes Mitglied nach dem Alphabet zwischen Portugal und Spanien platznehmen. In die Sitzungen des bisherigen Rates gingen die Nato-Vertreter stets mit zuvor untereinander abgestimmten Positionen. Im neuen Rat aber soll jedes Land für sich selbst sprechen können.

Direkte Gespräche gab es mit den Russen bisher im Hinblick auf die Themen Terror-Bekämpfung, Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Krisenmanagement sowie vertrauensbildende Maßnahmen. Wie weit man sich in den Fragen der Terrorbekämpfung und Waffenlieferungen entgegenkommt, wird davon abhängig sein, wie weit die Bereitschaft der Russen geht, auch "sensible Informationen", also Geheimdienst-Erkenntnisse, zu offenbaren.

Künftig soll in dem neuen Rat auch über Rüstungskontrolle, Raketenabwehr, Such- und Rettungsmissionen auf hoher See, Zivilschutzplanungen sowie allgemein über "neue Bedrohungen und Herausforderungen" gesprochen werden. Auch im Hinblick auf die Themen Militärdoktrinen und Militärreformen soll es einen Gesprächsaustausch mit den Russen geben.

Allerdings wird Rußland im neuen Rat kein Einspruchsrecht eingeräumt. Jedes Nato-Mitglied hat das Recht, bei Fragen, die im neuen Rat erörtert werden, ein Veto einzulegen. Dieses Veto kann ein Mitglied dann geltend machen, wenn es glaubt, daß der entsprechende Informations- und Meinungsaustausch mit Rußland den eigenen Interessen schaden könnte. Das Abkommen über den neuen Nato-Rußland-Rat wird am 28. Mai bei einem Sondergipfel der Nato-Staats- und Regierungschefs mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin unterzeichnet. Rußlands Außenminister Iwanow bewertete die Übereinkunft von Reykjavík denn auch als "radikal neuen Schritt in unseren Beziehungen".

Doch dies war keineswegs der einzige Tagungsordnungspunkt in Reykjavík: Nach dem Willen der USA soll die Nato darauf vorbereitet werden, überall "dort operativ zu werden, von wo Gefahren ausgehen". Sprich: Auf den deutschen Staatshaushalt werden weitere Kosten für eine entsprechende Ausstattung der Bundeswehr zukommen. Denn die Überbrückung großer Entfernungen erfordert entsprechend mobile Einheiten, die darüber hinaus auch entsprechend bewaffnet sein müssen. Die Amerikaner üben in dieser Frage massiven Druck auf die Europäer aus. Diese müßten endlich ihre Streitkräfte entsprechend modernisieren, wenn das Bündnis nicht marginalisiert werden solle, meinen die Amerikaner.

Weiter stand das Thema der Nato-Osterweiterung auf der Agenda. Zwar wurden keine konkreten Namen genannt, aber es scheint, daß neben den drei baltischen Republiken, die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien als Anwärter gehandelt werden. Selbst die Nicht-EU-Kandidaten Kroatien, Albanien und Mazedonien dürfen sich Hoffnungen auf eine Aufnahme machen.

Klaus-Dieter Schwarz, Verteidigungsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, kommentierte die Ergebnisse mit dem Ausruf "Die alte Nato ist tot, es lebe die neue." Reykjavík sichere den Fortbestand der Nato und erlaube es den USA, ihre sicherheitspolitische Aufmerksamkeit anderen Regionen zuzuwenden. Daraus folge für die EU, daß der Aufbau einer selbständigen Krisenreaktionsfähigkeit in enger Kooperation mit der Nato an Bedeutung gewinne. Dieses Vorhaben mache, so Schwarz, "die EU-Staaten zu einem wertvolleren Bündnispartner und gewährleistet, daß die transatlantische Allianz weiterhin ihre wichtigste Funktion erfüllt: die Einbindung der USA in die europäische Sicherheit".

Diese Einschätzung kommt einer groben Verkennung der US-Interessen gleich. Ein Blick in Zbigniews Brzezinskis nach wie vor (für die Einschätzung der US-Interessen) maßgebendes Werk "Die einzige Weltmacht" macht deutlich, warum: "Der Fortbestand der globalen Vormachstellung Amerikas", schreibt Brzezinski dort, "hängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann." Auf diese "Weltinsel", die der britische Geopolitiker Sir Halford Mackinder (1861-1947) mit Eurasien bezeichnete, habe die US-Politik nach den Worten Brzezinskis künftig ihr Augenmerk zu richten. Das sich jetzt anbahnende "Go East" von EU und Nato; die Befriedung des Balkans; der Eintritt Amerikas für einen Beitritt der Türkei zur EU; die Stärkung des geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Raum; die Anbindung Rußlands an Europa durch den Bau "neuer Autobahnen und Schienennetze"; die Anerkennung Chinas als regionaler Vormacht und global player; das Verhindern der Bildung einer Achse Rußland-China-Indien, was den Verlust der US-Hegemonie bedeuten würde. All das sind Mittel, um US-Interessen zu sichern, die Kontrolle über die eurasische Landmasse zu erhalten und den Aufstieg eines neuen gefährlichen Rivalen auszuschließen.

Schaut man sich Reykjavík einmal von dieser Warte aus an, wird schnell deutlich, daß dort vor allem über eines geredet wurde: nämlich über US-Interessen. Die Europäer haben die radikale Wendung der USA hin zu einem neuen Unilateralismus, der nur noch den eigenen nationalen Interessen folgt, augenscheinlich in ihren Konsequenzen noch nicht erfaßt. Sonst wäre der jüngst vorgelegte Jahresbericht des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) in London eindeutiger ausgefallen. In diesem wurde zwar richtig konstatiert, daß sich die US-Politik im Kampf gegen den Terrorismus je nach Interessenlage ihre Verbündeten suche oder eben alleine handele. Der Bericht sieht deshalb die konkrete "Gefahr, daß die Nato nur noch als eine Art OSZE mit militärischer Befehlsstruktur gesehen wird". Was der Bericht als "Gefahr" diagnostiziert, dürfte im Kern die Zielvorstellungen der USA umreißen.


 
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