© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/02 24. Mai 2002

 
Erdrutschsieg in Polderland
Niederlande: Die Christdemokraten und die Liste von Pim Fortuyn wurden Wahlsieger / Mitte-Rechts-Koalition ist möglich
Jerker Spits / Jörg Fischer

Der Bürger sehnt sich nach Veränderung", kommentierte die linksorientierte Zeitung Volks-krant den Ausgang der niederländischen Parlamentswahl. De Telegraaf nannte die Niederlage der Regierungskoalition sogar ein "Blutbad". Der Wähler habe mit Ad Melkert - dem 46jährigen Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten - "abgerechnet". Wahlsieger des 15. Mai wurden der Christlich-Demokratische Appell (CDA) und die Liste - des am 6. Mai von dem Linksextremisten Volkert van der Graaf ermordeten - Pim Fortuyn (LPF). Der seit acht Jahren oppositionelle CDA erhielt 43 (28 Prozent) der 150 Mandate in der Zweiten Kammer der Generalstaaten, 1998 waren es nur 29 (18,4 Prozent). Die vor drei Monaten gegründete LPF errang 26 Sitze (17 Prozent) und wurde zweitstärkste Kraft.

Die sozialdemokratische Arbeiterpartei (PvdA) verlor fast die Hälfte ihrer Mandate und stellt mit 15,1 Prozent nur noch 23 Abgeordnete (1998: 29 Prozent, 45 Sitze). PvdA-Sekretär Ruud Koole sprach schockiert vom schlechtesten Ergebnis der Parteigeschichte. Der zurückgetretene Ministerpräsident Wim Kok brachte die Abwahl seiner Partei mit der Entwicklung in anderen EU-Ländern in Verbindung. Auch in Italien, Dänemark, Portugal und Frankreich habe die Linke herbe Niederlagen einstecken müssen. Auch ihre Regierungspartner wurden abgestraft: Die rechtsliberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) unter dem 59jährigen Hans Dijkstal verlor 15 Mandate und stellt zukünftig nur noch 24 Abgeordnete (15,4 Prozent, 1998: 24,7).

Die linksliberalen Demokraten 66 (D'66) mit Thom de Graaf an der Spitze, die vor allem für Bürgerrechte, Volksabstimmungen, Gleichberechtigung oder die umstrittene Euthanasie eintreten, behielten von 14 Mandaten nur sieben übrig (5,1 statt 9 Prozent). Mit zusammen 35,6 Prozent und 53 Sitzen (1998: 62,7 Prozent, 97 Sitze) reicht es zur "violetten" Koaliton nicht mehr.

Auch "Groen Links", die Grünen-Partei des redegewandten Paul Rosenmöller (45), der Fortuyn im Wahlkampf ständig als "Rassisten" verunglimpfte, verliert mit knapp 7 Prozent eines ihrer bislang 11 Mandate. Aus dem linken Lager konnte nur die Sozialistische Partei (SP) des 49jährigen Ex-Maoisten Jan Marijnissen gewinnen: Die mit der deutschen PDS im EU-Parlament verbündete SP stieg von 3,5 auf 5,9 Prozent (9 statt 5 Sitze). Der Traum von Rot-Rot-Grün ist jedoch in weite Ferne gerückt.

Holländische Besonderheiten sind das Fehlen einer Prozent-Hürde trotz Verhältniswahlrechts sowie christliche Kleinparteien, die sich nicht dem 1977 aus drei Parteien entstandenen CDA angeschlossen haben. Die Christenunion (CU), ein im März 2001 gegründeter Zusammenschluß aus Reformatorisch Politischer Föderation (RPF) und der calvinistischen Reformierten Politischen Bund (GVP) verlor ein Mandat und erhält mit 2,5 Prozent zukünftig vier Sitze im Parlament. Auch die streng religiöse "Staatkundig Gereformeerde Parti" SGP büßte mit nur noch 1,7 Prozent eines ihrer Mandate ein. Beide Parteien sind auch im EU-Parlament vertreten und arbeiten in der Fraktion für das Europa der Demokratien und der Unterschiede mit dänischen EU-Kritikern oder der Jägerpartei des französischen Präsidentschaftskandidaten Jean Saint-Josse zusammen.

Die Partei Leefbaar Nederland (LN), deren Spitzenkandidat Fortuyn kurzfristig war, erreichte mit ihrem neuen Chef, dem Amsterdamer Anwalt Fred Teeven, nur 1,6 Prozent und zwei Sitze. Der vor allem auf Druck von Medien und Linksparteien (wegen "rechter Äußerungen") erfolgte Rauswurf Fortuyns hat der mit den deutschen Freien Wählern vergleichbaren LN nichts gebracht. Fast zehnmal so viele Niederländer wählten das "Original". Die Wahlbeteiligung lag mit 79 Prozent höher als 1998 (73,2 Prozent).

Schon vor Fortuyns Ermordung wurden der PvdA große Verluste vorhergesagt. Der schon vor der Wahl auch innerhalb seiner eigenen Partei scharf kritisierte Spitzenkandidat Ad Melkert stand seit Wochen mit dem Rücken zur Wand. Nach dem überraschenden Erfolg Fortuyns im März bei der Kommunalwahl in Rotterdam wirkte er wie gelähmt. Melkert, der Fortuyn zuvor wider besseres Wissen mit dem Franzosen Jean-Marie Le Pen verglichen hatte, wurde von einigen LPF-Anhängern für mitverantwortlich an dem "Klima des Hasses" gegenüber dem schillernden Soziologieprofessor Fortuyn gehalten.

Der neue LPF-Chef Mat Herben erklärte, Fortuyns Ideen lebten trotz seiner Ermordung weiter. Sorgen über innere Sicherheit und Einwanderung seien von den etablierten Parteien zu lange ignoriert worden. Fortuyn habe diese Themen direkt angesprochen und die Politik wachgerüttelt. Das Endergebnis zeige, so der 49jährige frühere Sprecher des Verteidigungsministeriums, daß die Anti-LPF-Kampagne der Linken und der Medien keinen Erfolg hatte.

Die niederländische Königin Beatrix traf vergangenen Freitag in ihren Palast Noordeinde traditionsgemäß die Vorsitzenden aller neu gewählten Fraktionen zu Einzelgesprächen über die Bildung der neuen Regierung. Trotzdem wird der CDA als stärkste Fraktion die langwierigen Koalitionsverhandlungen dominieren: "CDA zurück im Zentrum der Macht" titelte das Algemeen Dagblad. CDA-Chef Jan Peter Balkenende wird wohl neuer Ministerpräsident.

Der 45 Jahre alte einstige Professor für christlich-soziales Denken an der Freien Universität in Amsterdam hatte erst im November die Führung der damals zerstrittenen Partei übernommen. Balkenende steht hinter dem Gedankengut der Partei, einer Mischung aus konservativen Moralvorstellungen und sozialem Gewissen - in manchem sogar "links" der deutschen CDU. Im Wahlkampf hatte Balkenende vor allem den Sozialdemokraten vorgeworfen, sie seien trotz der starken Wirtschaftskraft unfähig, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Auch hatte er einen härteren Kurs gegenüber Einwanderern angekündigt. PvdA und Grüne warfen Balkenende daher mangelnde Distanz zu Fortuyn vor. Die Christdemokraten hatten schon vor der Wahl eine Koalition mit Fortuyn nicht ausgeschlossen. CDA-Vize Maria van der Hoeven bekräftigte dies nach der Wahl: "Wir schließen keine Partei von der Regierungsbildung aus."

Wahrscheinlich ist, daß der CDA - wie schon im Stadtrat von Rotterdam - eine Koalition mit LPF und VVD eingehen wird. Sie würde mit 91 Sitzen (über 60 Prozent) eine klare Mehrheit im Parlament erreichen. Doch mit dem Mord an Fortuyn wurde seine Partei ihrer Führungspersönlichkeit beraubt. Sein erster Nachfolger, Peter Langendam, trat letzte Woche nach nur drei Tagen wegen Äußerungen über die Mitverantwortung der Linken an den Fortuyn-Mord zurück. Der 27jährige LPF-Listenzweite João Varela meldete für den Fall einer Regierungsbeteiligung noch am Wahltag Anspruch auf die Ministerposten für Inneres, Gesundheit und Integration an.

Die programmatischen Differenzen zwischen den großen niederländischen Parteien sind - verglichen mit deutschen Verhältnissen - minimal. Die abgewählte Mitte-Links-Koalition hatte für ein starkes Wirtschaftswachstum und eine niedrige Arbeitslosigkeit gesorgt. Ex-CDA-Chef Ruud Lubbers war von 1982 bis 89 Premier einer CDA-VVD-Koalition und dann bis 1994 einer CDA-PvdA-Koaliton mit Wim Kok als Vizepremier. Lediglich das LPF-Wahlprogramm grenzt sich in einzelnen Punkten, dafür aber sehr deutlich, von den übrigen Parteien ab.

Die VVD, die im Ruf steht, die "Partei der Reichen" zu sein, plädiert für eine strikte Anwendung der bestehenden Asylbestimmungen und für eine effektivere Abschiebung von Asylbewerbern, die keinen Anspruch auf einen Aufenthalt in den Niederlanden haben. Auch wollen die Rechtsliberalen in der kommenden Legislaturperiode die Steuern kräftig senken.

CDA-Chef Balkenende hatte für eine "niederländische Leitkultur" geworben und eine "multikulturelle Gesellschaft" strikt abgelehnt. Weiter will der CDA mögliche Mehreinnahmen des Staates für Investitionen in Sicherheit und Gesundheitswesen verwenden. Die LPF erklärte aber als einzige Partei unmißverständlich, daß die Niederlande kein Einwanderungsland seien. Um die Ordnung der Gesellschaft wiederherzustellen, müsse der Zuwanderung maximaler Widerstand entgegengesetzt werden. Bislang erhalten Einwanderer nach fünf Jahren Aufenthalt das Wahlrecht auf Gemeindeebene und den freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Weiter plädierte die LPF wie der CDA für kleinere Schulen und Klassen in dem unter ständigem Reformdruck und häufigem Unterrichtsausfall leidenden Bildungssystem. Das Geld könnte von den bislang staatlich finanzierten Sprach- und Orientierungskursen für Ausländer umgeschichtet werden.

Treffend schrieb die Londoner Times: "Der neue Faktor ist das Thema Einwanderung. Die Bereitschaft der Wähler zu glauben, daß dieser eine Faktor für alle möglichen sozialen Probleme verantwortlich ist, muß Politikern aller großen Volksparteien Sorgen machen."

Doch auch unter Mitte-Rechts werden die Niederlande wohl "liberal" bleiben: Der Verkauf von bis zu fünf Gramm Haschisch in den "Coffeeshops" oder sozialversicherte und einkommenssteuerpflichtige Prostituierte waren kein Wahlkampfthema. Allenfalls die seit April 2002 straffreie aktive Sterbehilfe könnte eingeschränkt werden.


 
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