© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002


Landwirte sind Lebenswirte
von Franz Alt

Das deutsche Gesundheitswesen ist sehr krank. Die "billigen" Nahrungsmittel kommen uns teuer zu stehen. Wir essen uns krank. 148 Milliarden Mark mußten im Jahr 2000 in Deutschland wegen falscher Ernährung medizinisch aufgewendet werden. Gesundheit ist auch preiswerter zu haben. Zum Beispiel durch ökologisch erzeugte Lebensmittel. "Man kann weder gut denken, noch gut lieben, noch gut schlafen, wenn man schlecht gegessen hat." Die Erkenntnis Virginia Woolfs ist sehr aktuell. Doch es geht auch anders: besser und preiswerter. Im Jahr nach der "Agrarwende" gibt es in Deutschland 2,6 Prozent Ökobauern. In der Schweiz, in Lichtenstein und in Österreich, in Finnland und Dänemark, in Norwegen und Island, in den Niederlanden und in Italien, in der Slowakei und in Norwegen gibt es prozentual mehr Ökolandwirte. In Deutschland gilt noch immer: Öko ist zu teuer, und Öko kann nicht alle ernähren.

Es sind im wesentlichen diese Mythen der alten Landwirtschaft, welche die Agrarwende erschweren. Nun plädiert Renate Künast für 20 Prozent Ökolandbau bis zum Jahr 2010. 20 Prozent Öko und 80 Prozent der bisherige Fabrikfraß - soll das eine Vision sein, wofür eine Gesellschaft sich begeistern läßt? Wieso soll sich eigentlich ein Landwirt umstellen, wenn zu 80 Prozent alles so bleibt, wie es ist? Man stelle sich vor, Ludwig Erhard hätte 1949 "20 Prozent soziale Marktwirtschaft" propagiert! Auf das Wirtschaftswunder müßten wir noch heute warten. Wir haben aber heute die Chance, ein ökologisches Wirtschaftswunder zu organisieren. Voraussetzung dafür ist freilich die hundertprozentige Agrarwende.

Der Zukunftsforscher Professor Arnim Bechmann hat in seinem Buch "Landbau-Wende" schon 1987 vorgerechnet, daß und wie eine hundertprozentige Ökolandwirtschaft bis zum Jahr 2030 strukturell und finanziell organisiert werden könnte. Im Unterschied zu Renate Künast heute, dachte und rechnete der Chef des Barsinghausener Zukunftsinstituts schon damals die Agrarwende zu Ende. Seine weiteren Etappen: 50 Prozent Ökolandbau im Jahr 2020 und 100 Prozent Ökolandbau im Jahr 2030. Die jährlichen Zuwächse müßten demnach so aussehen: bis 2010 jeweils etwa ein bis zwei Prozent, bis zum Jahr 2020 jährlich drei Prozent und bis 2030 etwa fünf Prozent.

Die Dynamik der ersten Jahre entscheiden bei einem solchen Prozeß über das Ergebnis. Landwirtschaftskommissar Franz Fischler in Brüssel bemerkte, er halte die hundertprozentige Landbauwende für möglich. Die Westeuropäer müßten lediglich bereit sein, ein bis zwei Prozent ihres Einkommens mehr als bisher für Lebensmittel auszugeben - also statt bisher 12 Prozent künftig 13 bis 14 Prozent.

Alle Berechnungen bleiben freilich graue Theorie, wenn Verbraucher nicht gesundheits- und kostenbewußter werden und weiterhin nach dem alten Motto "Hauptsache billig" einkaufen.

In Deutschland gibt es etwa 500 Lehrstühle für Land- und Forstwirtschaft und ein halbes Dutzend für ökologisches Landwirtschaften. Es wird viele Jahre dauern, bis dieser akademische Widerstand überwunden sein und ökologischer Landbau vorurteilsfrei erforscht und gelehrt werden wird. Die im doppelten Sinne "alten" Lehrstuhlinhaber bilden zusammen mit der Chemie- und Nahrungsmittelindustrie, den Landwirtschaftskammern und der Landmaschinenindustrie die Hauptgegner einer agrarischen Transformation.

Die Ernährungsindustrie zum Beispiel steht jetzt vor der grundsätzlichen Frage, ob sie vollwertige Lebensmittel biologisch ebenso entwerten soll wie sie dies derzeit mit Lebensmitteln zugunsten der Konservierung tut, oder ob sie ein Verarbeitungs- und Betriebssystem aufbauen möchte, das ökologischen und gesundheitlichen Kriterien gerecht wird. Ohne Ökologisierung der gesamten Branche wird es keine Ökologisierung des Lebensmittelmarktes geben. Eine neue Eßkultur verlangt nach der Ernährungswende. Und diese ist die Voraussetzung einer Agrarwende. Solange den Konsumenten ihre Nahrung "wurscht" ist, bleibt alles beim Alten.

Als Karl Ludwig Schweisfurth seine Fleisch- und Wurstwarenfabrik ("Hertha, wenn es um die Wurst geht") verkauft und in den "Hermannsdörfer Landwerkstätten" konsequent mit Okolandbau begonnen hatte, fragte er bei verschiedenen landwirtschaftlichen Fakultäten an, wie artgerechte, ökologische Schweinezucht aussehen könnte.

Die Antworten, die er von der herrschenden Agrarwissenschaft erhielt, waren vielsagend: Man habe Rezepte für mehr Rationalisierung und Automatisierung und wisse, wie Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eingespart werden könnten, aber die Frage nach artgerechter Tierhaltung habe bisher noch nie jemand gestellt. Das war 1986.

Klar ist: Am Ende einer hundertprozentigen Agrarwende steht eine Landwirtschaft, die sich wesentlich von der heutigen unterscheidet. Das ist sinnvoll, nötig und möglich. Denn die heutige Landwirtschaft steckt in einer tiefen Krise: sie stolpert von einem Skandal in den nächsten, ist wesentlich an der Umwelt- und Klimazerstörung sowie am Artensterben beteiligt, produziert sinnlos Überschüsse, stellt immer weniger Arbeitsplätze zur Verfügung und verliert auch noch den letzten Rest an Akzeptanz bei der Bevölkerung, die nicht mehr lange riesige Subventionen in ein kaputtes System investieren wird.

Ohne großflächig wissenschaftliche Begleitung zum Beispiel durch Max-Planck-lnstitute und einige Dutzend neuer Lehrstühle für ökologischen Landbau, ohne eine größere Bundesforschungsanstalt für Ökolandbau - vergleichbar der Forschungsanstalt für Landwirtschaft in Braunschweig - und entsprechende Landesforschungsanstalten sowie Fachhochschulen für biologische Landwirtschaft fehlt die wissenschaftliche Basis für konsequentes Umsteuern.

Deutsche Konsumenten geben heute mehr Geld aus fürs Auto als für Lebensmittel. Ein Liter Motoröl ist uns mehr wert als ein Liter Salatöl. Klasse statt Masse heißt ganz einfach: Landwirte müssen für ihre wertvolle Arbeit anständig bezahlt werden. Ein Hühnerei für 11 Cent und ein Hähnchen für 1,50 Euro - das ist praktizierte Tierquälerei. Beim Bauern muß mehr Geld ankommen. Dann geht es auch seinen Tieren besser.

Wenn der ökologische Landbau nicht nur betriebswirtschaftlich gelingen, sondern auch volkswirtschaftlich der konventionellen Landwirtschaft überlegen sein soll, dann müssen jetzt rasch drei Wege beschritten werden: Erstens Forschungsarbeiten zur Produktion von Saatzucht sowie zur Strukturierung von Okobetrieben müssen im großen Umfang initiiert werden. Zweitens, junge Professoren müssen berufen werden und drittens Vollstudiengänge für Ökolandwirtschaft müssen beginnen.

(...) Das Modell "ökologischer Landbau Deutschland" könnte weltweit beachtet werden wie heute das Modell Österreich. Die ökologische Sanierung des ländlichen Raums schreitet voran, und die Bodenfruchtbarkeit wird wesentlich verbessert, Grundwasser und Oberflächengewässer werden so sauber, daß eine regionale ökologische Wasserversorgung funktioniert. Flora und Fauna werden wieder wertvoller, und Deutschlands Agrartechnologie könnte Exportschlager werden. Unter diesen Voraussetzungen kann die Landbauwende bis 2030 abgeschlossen sein.

Heute noch kehren die Kinder der Landwirte von den Universitäten mit der Giftspritze im Gepäck auf ihre Äcker zurück. Die neuen Lehrer für regenerative Landwirtschaft aber könnten die Töchter und Söhne von Landwirten zu Lebenswirten ausbilden. "Früher arbeitete ich voller Angst. Beim Ausbringen von chemischem Kunstdünger mußte ich immer Handschuhe tragen. Heute bin ich angstfrei, wenn ich mit bloßen Händen im Acker wühle", erzählt der Ökobauer Dietmar May. 1985 übernahm er in Junkershausen an der thüringisch-fränkisch-hessischen Grenze den 70-Hektar-Hof seiner Eltern. Damals hatte sein Vater zu ihm gesagt: "Wenn Du auf Bio-Landwirtschaft umstellst, machst Du Bankrott. Das rechnet sich nie." Heute sagt der Sohn: "Hätte ich nicht auf Bio umgestellt, dann wäre ich längst Bankrott. So wie viele meiner Kollegen, die konventionell weitergemacht haben. Mein größtes Kapital ist meine Angstfreiheit und meine chemiefreien Böden. Es war nicht leicht. Aber heute bin ich ein lebensfroher Biobauer und mein inzwischen 70 jähriger Vater verkauft meine Ökoprodukte."

Nicht alle, aber die meisten Ökobauern, die ich in den letzten Jahren traf, sind ähnlich zufrieden wie Dietmar May. Drei Generationen, seine Familie mit drei Kindern und seine Eltern, leben heute von der Okolandwirtschaft auf seinem Hof. Die Großfamilie wirbt mit dem Motto "Gesunde Böden, gesunde Pflanzen, gesunde Tiere" und einem ansprechenden Prospekt für ihre Produkte. Sie halten freilaufende Schweine, Hühner und Rinder und verkaufen ökologisch erzeugten Weizen, Dinkel, Roggen, Kartoffeln und Möhren. Im hofeigenen Laden wird den überwiegend älteren Kunden Rindfleisch, Lamm und Masthähnchen von biologisch wirtschaftenden Kollegen angeboten. Außerdem Eier und Suppen-Hühner aus eigener Freilandhaltung, Vollkornbrot, Sonnenblumenöl, Kartoffeln und Gemüse, Zwiebeln und Äpfel, Apfelsaft, Ökobier und verschiedene Getreidesorten.

Warum überwiegend ältere Kunden? "Die Älteren wissen noch aus der Nachkriegszeit - also vor der Chemisierung der Landwirtschaft - wie gutes Essen schmeckt. Die Jungen sind von McDonalds geschmacks verdorben", sagt Dietmar May.Und genau deshalb lädt der Biobauer Schulklassen auf seinen Hof ein: 20 bis 30 Klassen kommen jedes Jahr. Aber die Schüler interessieren sich mehr für Tiere als fürs Essen. Deshalb macht Dietmar May dieses Spiel mit den Schülern. Er läßt einen nach dem anderen aus einem engen Käfig seine freilaufenden Tiere beobachten und will dann von den jungen Leuten ihre Erfahrungen und Empfindungen wissen. "Sie sind fast alle ehrlich empört", erzählt er. Aber was schlagen sie vor in ihrer Empörung? Strafen, Gesetze, Polizei rufen!

Erst später kommen die empörten tierliebendenden Schüler dann auf die Idee, daß Massentierhaltung und KZ-Hühner etwas mit ihrem eigenen Kaufverhalten und dem ihrer Eltern zu tun hat." "Am meisten beschämt sind die Lehrer", erzählt Dietmar May. Sie müssen nämlich vor ihren Schülern eingestehen, daß sie bisher überwiegend Eier von Käfighühnern nach dem Motto: "Hauptsache billig" gekauft haben. (...)

Auch Franz Fischler ist ein Förderer des ökologischen Landbaus. Und das kam so: Als der heutige Landwirtschaftskommissar der Europäischen Union Ende der achtziger Jahre in Wien Landwirtschaftsminister geworden war, hatte er auf einer Versammlung von jungen Bauern zu sprechen. Er ermunterte sie, die Höfe ihrer Eltern zu übernehmen. "Das können wir gar nicht, Herr Minister", wurde ihm entgegengehalten. "Wir Bauern gelten als dumm und finden deshalb heute auf dem Dorf gar keineFrau mehr. Die jungen Frauen ziehen alle in die Stadt, und wir Jungbauern werden es auch tun müssen, wenn wir eine Familie gründen wollen." Diese Bankrotterklärung des Bauerntums durch die Jungbauern sei für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen, erzählte mir Franz Fischler in seinem heutigen Brüssler Büro. Der damalige Wiener Landwirtschaftsminister ging auf die Suche nach einem neuen Leitbild für eine ganze Bauerngeneration. Bald wurde ihm klar: "Das kann nur der ökologische Landbau sein. Da bleiben die Jungen im Dorf oder kommen wieder zurück. Und sie werden auch wieder eine Frau finden."

So ging er ins Kabinett und schlug vor, Bauern künftig weniger für die Uberschußproduktion und deren Vernichtung zu subventionieren, sondern ihnen finanzielle Anreize für ökologische Leistungen zu bieten. Das Kabinett stimmte zu. Ab 1988 gibt es in Österreich eine direkte Förderung für Umsteller. Und Osterreich hat heute schon zehn Prozent Biobauern.

"Ging auch die Rechnung mit den Frauen auf?" will ich von Franz Fischler wissen. Der großgewachsene, bärtige Bauer aus Tirol, der gar nicht ins Bild der eher steifen Brüssler Eurokraten paßt, lacht: "Wenn ich heute in Wien oder Salzburg an der Universität einen Vortrag halte, kann es sein, daß anschließend junge Studentinnen zu mir kommen und sagen, daß sie nach dem Studium wieder zurück aufs Land wollen, um sich einen Biobauern zu angeln. Biobauern gelten heute als Männer von morgen und nicht mehr als dumme Bauern von gestern."

In Österreich ist es für eine moderne junge Frau schick geworden, einen Ökobauern zu heiraten. Damit ist der entscheidende Schritt zur Trendwende vollzogen. Die Zukunftssicherung der Landwirtschaft durch ihre Ökologisierung ist weit mehr als die Zukunftssicherung eines Berufsstandes - es ist der Kultur-Auftrag einer ganzen Generation. Auf der diesjährigen "Grünen Woche" stand Ökolandwirtschaft im Mittelpunkt wie nie. Auch hier wurde deutlich: Die Agrarwende ist jetzt schon unumkehrbar.

Wenn Edmund Stoiber freilich eine Bundestagswahl gewinnen will, wird er noch dazulernen müssen. Sein Credo nach seiner Nominierung: "Ich bin für Öko - aber bitte in der Nische" reicht nicht. Die Landwirtschaft stand lange genug in der Nische. Mit Ökolandbau kommt sie endlich wieder dahin, wo sie schon immer hingehört: ins Zentrum der Gesellschaft. Landwirtschaft ist der Ur-Beruf jeder Gesellschaft.

 

Dr. Franz Alt, 63, ist Fernsehjournalist und Buchautor. Zu dem hier behandelten Thema veröffentlichte er 2001 im Goldmann-Verlag das Buch "Agrarwende jetzt" mit dem Untertitel: "Gesunde Lebensmittel für alle".


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