© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
Das falsche Bewußtsein
Wo politisch motivierte Gewalt zunimmt, ist die legitimierte Macht in Erosion begriffen
Doris Neujahr

Manchmal läßt die liberale Gesellschaft ihre Spaßkappe fallen und zeigt ihr Gesicht aus Eisen. Das kann aus heiterem Himmel und wie in einem Vexierbild geschehen wie jüngst in Erfurt. Der 19jährige Massenmörder Robert S. hatte Grund zu der Annahme, im Konkurrenzkampf der frei flottierenden Individuen bereits gescheitert zu sein. Ohne Abitur, überhaupt ohne Schulzeugnis, war sein Weg in die Asozialität vorgezeichnet. Denn auch für eine Überfliegerkarriere als Model, Boygroupsänger oder Fußballer war er ungeeignet, weil nicht hübsch oder sportlich genug. In der Supermarktzivilisation, die ihm alternativlos erschien, weil ihm andere Werte und Maßstäbe offenbar nie beigebracht worden sind, war ihm der Part des blöden Zaungastes vorherbestimmt.

Darüber eine Diskussion zu führen, wäre allemal sinnvoller als die Sekundärdebatte über Gewaltvideos und Computerspiele. Früher, als die Linke noch nicht völlig mit Macht und Markt verschmolzen war, hätte sie Robert S. als Produkt und Verkörperung struktureller Gewalt beschrieben. Heute stimmt sie in das Schweigen darüber ein.

Eisern ist auch die Gelassenheit, mit der in Deutschland die Ermordung des volksnahen niederländischen Politikers Pim Fortuyn (54) registriert wird. Es scheint, daß sie den hiesigen Auguren nicht ganz unlieb ist. Der Unterton vieler Kommentare lautet: Wind gesät, Sturm geerntet! Die Untat im Musterland von Toleranz und Liberalität und die Koinzidenz mit den Erfurter Ereignissen machen es unmöglich, die Gewalt in der liberalen Gesellschaft weiterhin nur als Ausrutscher, Betriebsunfall oder Ausnahme von der Regel zu begreifen.

Um die politisch intendierte Gewalt - nur um diese soll es gehen - zu definieren, müssen ihre Unterschiede und Parallelen zur Macht herausgestellt werden. Beides, Macht und Gewalt, bezeichnet die Fähigkeit, in der sozialen Interaktion das Handeln anderer zu bestimmen und sie widrigenfalls mit Sanktionen zu belegen. Während Max Weber betonte, es sei gleichgültig, worauf die Chance der Machtausübung beruhe, haben spätere Theoretiker den Machtbegriff eng an den der Legitimation gekoppelt und so die Grenze zur Gewalt gezogen.­ Die Legitimation kann durch natürliche Autorität, Tradition, Kompetenz, Wahlentscheidung oder ähnliches erlangt werden. Macht beruht demnach auf der gegenseitigen Übereinkunft zwischen denen, die sie verdient haben, und den anderen, die dieses Verdienst anerkennen.

Anders die Gewalt, die ein einseitiger, physischer oder psychischer Zwang zur Durchsetzung eigener Ansprüche ist und die Frage nach der Legitimation offensiv verwirft. Während der 68er- Studentenbewegung gelang es militanten und geschlossenen Grüppchen immer wieder, die unorganisierte Mehrheit in Vollversammlungen durch rhythmisches Klatschen derart zu demoralisieren, daß sie sich schließlich dem Minderheitenwillen beugte.

Auch der demokratisch verfaßte Machtstaat übt Gewalt aus, am sichtbarsten durch Polizei und Justiz. Allerdings ist diese institutionelle Gewalt durch Gesetze eingehegt. Hinter dieser Einhegung beginnt jedoch eine Grauzone, in der legalisierte Macht und illegale politische Gewalt ineinanderfließen oder -greifen können. Man kann zum Beispiel Personen, Parteien, Institutionen, von denen man die Legitimität der eigenen Macht unterminiert sieht, solange verteufeln und außerhalb des Verfassungsbogens stellen, bis potentielle Gewalttäter das als Hinweis verstehen, sie verkörperten das schlechthin Böse, gegen das jedes Mittel recht sei.

Die political correctness bildet das übergreifende Bezugs- und Kommunikationssystem, in dem das Unausgesprochene leicht verstanden wird, ohne im juristischen Sinne nachweisbar zu sein. Sie ist ein falsches Bewußtseins- und zugleich Propagandasystem, das sich zwischen die Menschen und die von ihnen erfahrene Realität schiebt. Sie befestigt die Legitimation der Machthaber, indem sie deren Versagen zum Bewußtseinsproblem derjenigen umdeutet, die unter den Folgen dieses Versagens leiden.

Dieses System kann nur als ein dynamisches existieren. Es muß immer weiter ausgreifen, immer neue Vorschriften, Aktionen, Initiativen erfinden, weil jeder noch nicht erfaßte Bereich, den der gesunde Menschenverstand behauptet, zur Laufmasche werden kann, von der aus der schöne neue Wollpullover aufgerollt wird. Der Unwille der political correctness, die Unterschiede zwischen "rechts" und "rechtsextrem", zwischen Kritik an falscher Ausländerpolitik und "Ausländerfeindlichkeit" wahrzunehmen, ist gleichbedeutend mit der Weigerung, die Wirklichkeit zu erfassen, auf die diese Worte ursprünglich hinweisen sollten. Diese Weigerung entspringt keinem Mißverständnis, sondern entschiedener Absicht.

Die immer größere Differenz zwischen erlebter Realität und ihrem Abbild in Politik und Medien führt zu Neurosen, die sich in eruptiver Gewalt entladen. Nichts anderes verbirgt sich hinter Zeitungsmeldungen über 78jährige Rentner, die mit dem Luftgewehr auf einen von Immigrantenkindern frequentierten Spielplatz ballern, nachdem ihre Beschwerden über Lärm und Dreck im Treppenhaus permanent mit dem Nazi-Vorwurf gekontert wurden.

Neurotische Energien explodieren auch auf der anderen Seite. Anfang April 1992 wurde in einem Berliner China-Restaurant bei einem "hinterhältigen Überfall" einer türkischen Antifa-Gruppe auf angebliche Rechtsextremisten dem 47jährigen Familienvater Gerhard Kaindl die "Lunge mit einer 25 Zentimeter langen Messerklinge zerfleischt" (Eberhard Seidel-Pielen in der taz vom 21. Oktober 1994). Bemerkenswert die Reaktion des Berliner Landgerichts, das die Täter auf Antrag der Staatsanwaltschaft nicht wegen Mordes oder Totschlags, sondern nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilte und als mildernden Umstand ihr Bedrohungsgefühl durch den "Rechtsextremismus" anführte. "Allein die Anwesenheit Rechter im Kiez wurde als Provokation empfunden", erklärte die Vorsitzende Richterin der 7. Großen Strafkammer des Landgerichts bei der Urteilsverkündung. Die richterliche Fiktion erhielt also das "PC"-konforme Täter-Opfer-Schema aufrecht. Wer wollte, konnte das als Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung weiterer rechter Dissidenten verstehen.

Natürlich wird niemand einen kausalen oder institutionellen Zusammenhang von Machteliten und Gewaltmob im Zeichen der political correctness unterstellen. Doch der Eindruck des strukturellen Zusammenhangs ist unabweisbar. Die Zunahme und stillschweigende Billigung politischer Gewalt ist ein Zeichen, daß die legitimierte Macht in Erosion begriffen ist.

Pim Fortuyn personifizierte diesen Erosionsvorgang. Als wortgewaltige Stimme des gesunden Menschenverstandes war er zur Laufmasche im feingestricken System geworden. Die gesellschaftliche Ausgrenzung des populären schwulen Dandys hatte versagt, weil er als Person und Typus die Errungenschaften der liberalen Gesellschaft beim Wort nahm.

Dem dialektisch geschulten Homosexuellen, der von hohen Muslimen der Niederlande offen als "Schwein" bezeichnet werden durfte, fiel der Nachweis leicht, daß kulturelle Beliebigkeit nicht Toleranz und Vielfalt, sondern deren Ende bedeutet.

Die Propaganda gegen ihn verwickelte sich in derart viele Widersprüche, daß sie ihre Wirkung verfehlte. Seine charismatische Synthese aus Intelligenz und persönlicher Bezeugung legte die Absurdität der political correctness in einer Weise bloß, die für ihren Bestand gefährlich wurde. Das Attentat durch einen neurotisierten Linksaktivisten war die logische Konsequenz daraus.

Folglich ist die political correctness nicht bloß ein skurriles ideologisches Überbauphänomen, sie ist zugleich eine materielle, mitunter lebensgefährliche Gewalt. Sie ist aber auch ein Produktionsmittel zur Erwirtschaftung von Mehrwert, dessen Besitzer und Verwalter sich gegen die eigene Enteignung wehren.

Die Reihe beginnt bei nichtsnutzigen Talkshow-Schranzen, Spitzeln und Denunzianten, bei dienstbaren Journalisten und zweifelhaften Politikexperten, die statt Wissenschaft akademisch verbrämte Stimmungsmache betreiben. Sie setzt sich fort mit dem Rattenschwanz aus kostenträchtigen Stiftungen, Instituten und Vereinen und hört bei den Parteien, die längst Konzerne zur Akkumulation und Verteilung von Macht, Kapital und Einfluß sind, noch lange nicht auf.

Alle diese Akteure partizipieren am System des falschen Bewußtseins und werden von ihm schleichend deformiert. Sein Zusammenbruch würde in unzähligen Fällen den sozialen und gesellschaftlichen Abstieg und den intellektuellen und moralischen Bankrott bedeuten. Hinter dem Gesicht aus Eisen lauert deshalb - die Angst.

Trauerfeier für Pim Fortuyn: Zehntausende säumten die Straßen in Rotterdam, als am 10. Mai der mit Blumen bedeckte Wagen mit dem Sarg des ermordeten Politikers vorbeifuhr. Die Beisetzung Fortuyns fand am Nachmittag im engsten Familienkreis statt.


 
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