© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
Vier Wochen lang ein neuer Regierungsstil
Frankreich: Eine breite bürgerliche Übergangsregierung soll die Bürger in Sicherheit wiegen und die Linke nicht provozieren
Charles Brant

Der Auftrag der neuen französischen Regierung unter Jean-Pierre Raffarin besteht darin, rechtzeitig vor den Parlamentswahlen im Juni die politischen Wogen der letzten Wochen zu glätten. Als geeignete Plattform hat sie sich die Innere Sicherheit auserkoren.

Wird Raffarin die Franzosen beruhigen können, nachdem sie sich von Jean-Marie Le Pen einen gehörigen Schrecken einjagen ließen? Den Zentristen aus der Provinz prädestiniert vor allem sein plumper Charme für eine Rolle, in der er den verständnisvollen Landesvater spielen muß. Der Joker, den Präsident Jacques Chirac letzte Woche überraschend aus der Tasche zog, gilt nicht nur als Fürsprecher der "kleinen Leute" - des France d'en bas, "niederen Frankreichs" -, sondern (ob man es glaubt oder nicht) ist auch ein Profi auf dem Gebiet der Kommunikation. Am ehesten könnte man ihn als Produkt einer Synthese zwischen Chirac und seinem Vorvorgänger Valéry Giscard d'Estaing bezeichnen. Der Autor des Aufsatzes "Pour la nouvelle gouvernance" ("Für den neuen Regierungsstil") gibt sich als bodenständiger "Mann aus dem Volk", als Befürworter einer Politik der "Nähe" und des Konsens. Als einer von wenigen bürgerlichen Nichtgaullisten unterstützte er im Präsidentschaftswahlkampf 1995 Jacques Chirac - und nicht wie viele liberale UDF-Kollegen den damaligen Umfragefavoriten Édouard Balladur, der allerdings ebenfalls Mitglied der Neogaullisten (RPR) war und ist.

Man munkelt, der Vizepräsident der Partei "Démocratie Libérale" (LD) stehe unter dem unmittelbaren Einfluß von Ex-Premier und Ex-RPR-Chef Alain Juppé. Raffarin ist sich bewußt, daß seine Regierung den Auftrag hat, die Übergangszeit bis zu den Parlamentswahlen am 9. und 16. Juni so friedlich wie möglich zu gestalten, um die Franzosen dazu zu verleiten, sich mehrheitlich hinter Chirac zu stellen.

"Im Galopp vorwärts" - in diesem Stil will Raffarin seine Regierung durch die nächsten Wochen führen. Im Klartext heißt das, daß sich unter den aus 15 Ministern und je sechs beigeordneten Ministern und Staatssekretären viele neue Köpfe finden - darunter sechs Frauen. Die Roßkur, die Raffarin verschrieben hat, ist eine potente Mischung: 15 Vertreter von Chiracs RPR wie Michèle Alliot-Marie (die erste Frau, der je das Verteidigungsamt anvertraut wurde), Dominique Galouzeau de Villepin (Außenminister, zuvor Leiter des Pariser Präsidialamts) oder Roselyne Bachelot (Umwelt) - sie war Chiracs Wahlkampfsprecherin; UDF-Mitglieder und Anhänger des viertplazierten Präsidentschaftskandidaten François Bayrou wie der 48jährige Renaud Donnedieu de Vabres (Europa) oder Gilles de Robien (Verkehr/Bau); Liberaldemokraten wie Jean-François Mattei (Familien) oder die algerisch-stämmige Tokia Saïfi - EU-Parlamentarierin und Gründerin einer "Gesellschaft für Integration und der nationalen Bewegung für die Förderung der Gleichheit von Immigranten und deren Beteiligung am politischen Leben". Die 42jährige wird Staatssekretärin für Entwicklungspolitik.

Der 63jährige parteilose Chef des Stahlkonzerns Arcelor, Francis Mer, erhält das Wirtschafts-, Finanz- und Industrieministerium, ins Ministerium für Kultur und Kommunikation wechselt der bisherige Leiter des Centre Pompidou, Jean-Jacques Aillagon - er organisierte für Chirac im Präsidentschaftswahlkampf die "culture contre Le Pen". Und als Kronjuwel in diesem illustren Reigen ein weiterer parteiloser Vertretern der "Zivilgesellschaft": Luc Ferry, Fernsehmoderator, "Menschenrechtler" und der französischen Medien liebster Philosoph. Der 51jährige wird Minister für Jugend, Unterricht und Forschung.

Nicolas Sarkozy (RPR) übernahm das neuzugeschnittene Amt des Ministers für Inneres, Innere Sicherheit und Freiheitsrechte. In den Kreisen der politisch Interessierten löste seine Ernennung Überraschung aus. Nicht wenige Beobachter fragten sich, ob es sich nicht um eine vergiftete Gabe handelte: um den Versuch nämlich, einem ewig jungen Wilden die Zähne zu ziehen. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf 1995 brachte Sarkozys Opportunismus ihn ins Fahrwasser Edouard Balladurs. Später kehrte er in Chiracs Schoß zurück. Als Abgeordneter für Hauts-des-Seine und Bürgermeister von Neuilly-sur-Seine hat Sarkozy kaum Gelegenheit gehabt, die städtische Kriminalität aus nächster Nähe mitzuerleben.

Neuilly ist eine schicke Vorstadt, in der das Leben gesetzt seinen Lauf nimmt. Bandenkriege sind den Einwohnern genauso fremd wie die brennenden Autos, die anderswo - in Straßburg etwa - längst zum alltäglichen Straßenbild gehören. Die hier lebenden Einwanderer sind wohlhabend und leisten sich eigene Leibwächter. Sarkozys wahre Mission ist, den Franzosen bis zu den Wahlen eine heile Welt vorzugaukeln, in der Recht und Ordnung einen Sieg nach dem anderen davontragen. Der 47jährige Anwalt ist nicht nur mit der Redegewandtheit und dem gewichtigen Auftreten eines Marktschreiers gesegnet, er genießt es geradezu, sich mitten ins Gemenge zu stürzen. In der Nacht vom 8. zum 9. Mai beging er seinen Amtsantritt mit dem Besuch mehrerer Polizei- und Gendarmeriewachen. Fernsehkameras gaben ihm Geleitschutz. Sarkozy rundete sein Nachtprogramm ab, indem er von weitem an einem Einsatz gegen die Prostitution im 17. Arrondissement teilnahm. Er ist offensichtlich allzeit bereit.

Die Einrichtung eines Ministeriums für Innere Sicherheit - was aus linken Kreisen bereits heftig kritisiert wurde - kann nicht drei Jahrzehnte wiedergutmachen, in denen die Justiz strafbar nachlässig und die Polizei demoralisiert wurde. Dazu braucht es mehr als ein paar schwungvolle Handbewegungen mit dem Zauberstab - das hat der Hamburger Innensenator Ronald Schill schon bitter erfahren müssen. Der fortgeschrittene Verfallszustand der Inneren Sicherheit ist weder ein Hirngespinst noch eine bloße Folge der Wirtschaftskrise.

Seine bittere Realität zwang Raffarins sozialistischen Amtsvorgänger Lionel Jospin, die eigene Naivität öffentlich einzugestehen. Überzeugte Linke wie Alain Bauer, Sicherheitsberater, Orientexperte und Universitätsprofessor an der renommierten Sorbonne, mußten einen "quantitativen und qualitativen Wandel in der Ausübung von Gewalt" feststellen: Eigentumsdelikte und Sachbeschädigungen weichen Körperverletzungen. So talentiert Sarkozy auch sein mag - ihm wird es nicht gelingen, dem Gewaltverbrechen Einhalt zu gebieten.

Die Verunsicherung hat die Psyche der französische Gesellschaft schwer beschädigt. Sie wurde aus Chaos geboren, das auf die Zerstörung jeglicher Autorität im Namen der permissiven 68er-Ideologie folgte. Die Masseneinwanderung war ihr Nähr- und Zündstoff zugleich. Sie hat die städtischen Randgebiete in rechtlose Zonen verwandelt, in denen sich nicht nur ein reger Handel mit Rauschgift und sonstigen illegalen Gütern, sondern auch islamistische Netzwerke ungehindert ausbreiten konnten. Ethnische Banden genießen regelrechte Straffreiheit. Die Verbrennung von Autos ist genauso zur Routine geworden wie die Kriminalität in den Schulen. Selbst Polizeiwachen sind vor Übergriffen nicht mehr sicher.

Im letzten halben Jahr hat die Innere Sicherheit einen neuen Tiefstand erreicht. In Evreux wurde ein Familienvater am hellichten Tag auf offener Straße von einer Bande zu Tode geprügelt, ohne daß die Polizei eingriff. In Orleans wurde ein Rentner von jugendlichen Bandenmitgliedern verprügelt und sein Haus in Brand gesetzt. In Nanterre lief ein militanter Linker während einer Stadtratssitzung Amok - eine Szene, wie man sie bislang nur aus den USA kannte.

Den Historikern ist diese Entwicklung kein großes Rätsel. Epochen, in denen die Politik sich auf bloße Schaumschlägerei und Augenwischerei reduziert, gehen im allgemeinen mit einem Anstieg der Kriminalität einher. Die Franzosen haben diese Erfahrung im 18. Jahrhundert schon einmal machen müssen, und der Tumult jener Revolution war nur ein Vorgeschmack auf den bolschewistischen Terror des 20. Jahrhunderts. Momentan zeigen wieder alle Wegweiser in dieselbe Richtung.

Nicht zufällig waren im Vorfeld der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, als der Exorzismus des "Teufels" Le Pen im vollen Gange war, seltsame Aufrufe zum Mord zu vernehmen. Und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurde der Philosoph Bernard-Henri Lévy zu Thierry Ardissons beliebter wöchentlicher Fernsehsendung "Tout le Monde en parle" ("In aller Munde") geladen, um dem Publikum seinen Haß auf Le Pen zu predigen. Vor dem großen Auftritt dieses Ritters der Demokratie und der Menschenrechte wurde eine Vorschau für den Film "Féroce" ("Wütend") gezeigt, eine opportunistische Produktion, um deren Verbot sich Front National-Chef Jean-Marie Le Pen vergeblich bemüht hatte, weil sie eine verleumderische Karikatur seiner Person und einen Mordappell beinhaltet: Die Tochter des fiktionalen "Chefs" verliebt sich in einen jungen Nordafrikaner, der sich in das Umfeld ihres Vaters einschmeichelt, um ihn umzubringen.

Lévy, der ein Buch mit dem Titel "Die französische Ideologie" geschrieben hat und unermüdlich gegen den "französischen Faschismus" anredet, war sich nicht zu blöd, Beifall zu klatschen für einen "Film, der zur rechten Zeit kommt". Niemand erhob auch nur den leisesten Einwand - auch die ebenfalls zugegene Journalistin Elisabeth Lévy brachte es nicht übers Herz, ihren Namensvetter darauf aufmerksam zu machen, daß er sich im Widerspruch zu seinen eigenen Prinzipien befand.

Liegt hier der Grund für die Diskretion, mit der die Franzosen die Ermordung des Niederländers Pim Fortuyn aufgenommen haben? Nachdem sie tagelang gebrüllt hatten: "Le Pens Gedankengut ist gewalttätig!", dürfte es ihnen schwergefallen sein, einzusehen, daß dieselbe Hysterie, mit der sie eine Strohpuppe Le Pens verbrannt hatten, verbrecherische Züge annehmen kann. Zudem stammt - wie in Nanterre - der mutmaßliche Täter Volkert van der Graaf aus ihren eigenen "linken" Reihen. Die französische Definition von Freiheit war schon immer relativ. Lange vor Sartre war es Saint-Just, der gesagt hat: "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!"


 
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