© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Bezugspunkt der eigenen Identität
Föderalismus in Mitteldeutschland: Als der DDR-Patriotismus ausblieb, wurde der Regionalismus neu belebt
Thorsten Hinz

Kurz vor der Wiedervereinigung 1990 wurden auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die sogenannten fünf neuen Länder gebildet. Mit dieser Maßnahme wurde eine 1952 unterbrochene Kontinuität wieder aufgenommen. Die heutigen Bundesländer entsprechen in etwa der territorialen Gliederung, die 1945 von der Sowjetische Militäradministration (SMAD) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) eingeführt worden war und die allerdings nur sieben Jahre Bestand hatte.

Die SMAD hatte weitgehend die historischen Grenzen innerhalb Deutschlands berücksichtigt. Die vorgenommenen Modifikationen ergaben sich aus der Abtrennung Ostdeutschlands und der Zerschlagung Preußens. Das Land Sachsen blieb bestehen und wurde vergrößert um den niederschlesischen Landzipfel diesseits der Neiße um Görlitz. Das Land Thüringen entsprach dem 1920 aus den thüringischen Duodezstaaten gebildeten Freistaat zuzüglich der Enklave des preußischen Regierungsbezirks Erfurt, die Thüringen erst 1944 zugeteilt worden war. Zu Mecklenburg-Vorpommern gehörten die 1934 zusammengefügten Freistaaten (und vormaligen Großherzogtümer) Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz sowie die bei Deutschland verbliebenen Teile Vorpommerns. Die preußische Provinz Brandenburg blieb - abzüglich der ostbrandenburgischen Gebiete jenseits der Oder - eine territoriale Einheit. Eine Neugründung war Sachsen-Anhalt, das die preußische Altmark und das anhaltinische Gebiet umfaßte. Brandenburg und Sachsen-Anhalt waren vorerst nur "Provinzen", offenkundig mit Rücksicht darauf, daß es sich bei ihnen ganz oder teilweise um Kerngebiete des preußischen Staatsverbandes handelte, über dessen Schicksal noch nicht abschließend entschieden war.

Die am 25. Februar 1947 vom Alliierten Kontrollrat beschlossene Auflösung des Staates Preußen (Gesetz Nr. 46) brachte für die Länder in der SBZ einige Veränderungen mit sich. Die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern wurde angewiesen, die Bezeichnung "Vorpommern" zu streichen. Zum einen war Pommern Teil von Preußen gewesen. Vor allem aber ging es darum, einen Titel zu unterdrücken, der Assoziationen an Hinterpommern - das waren rund 85 Prozent der Provinz Pommern - nahelegte, das unter polnischer Verwaltung stand. Die Provinzen Brandenburg und Sachsen-Anhalt wurden am 21. Juli 1947 in den Rang von Ländern erhoben.

Ländergrenzen waren weitgehend historisch

Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 ließ die Ländergliederung zunächst unberührt. Theoretisch, gemäß ihrer ersten Verfassung von 1949, war die DDR - ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland (BRD) - ein dezentralisierter Einheitsstaat. Die Gesetzeskompetenzen lagen bei den zentralstaatlichen Organen in Berlin, ihr Vollzug oblag den Länderbehörden. Durch das Gesetz vom 7. Oktober 1949 wurde neben der Abgeordnetenkammer (Volkskammer) eine Provisorische Länderkammer gebildet. Das Land Sachsen entsandte elf Abgeordnete, Sachsen-Anhalt stellte acht, Thüringen sechs, Brandenburg fünf und Mecklenburg vier Vertreter. Berlin konnte sieben Abgeordnete entsenden. Sie wurden von den Landtagen im Verhältnis der Stärke der Fraktionen gewählt. Die Länderkammer durfte Gesetzentwürfe einbringen und gegen Beschlüsse der Volkskammer aufschiebenden Einspruch einlegen, der durch die Volkskammer jedoch wieder aufgehoben werden konnte.

Anfänglich war die DDR ein föderaler Staat

Dieser föderale Ansatz war durch die zentrale Wirtschaftsplanung in der Sowjetischen Besatzungszone früh ausgehebelt worden. Die SMAD hatte bereits am 27. Juli 1945 elf Zentralverwaltungen (ZV) eingerichtet. Ihre Kompetenzen waren zunächst unscharf definiert. Vor allem besaßen sie kein Weisungsrecht gegenüber den Ländern. In der Folge kam es immer wieder zu Kompetenzkonflikten zwischen den Zentralverwaltungen und den Ländern, die ihre Rechte zu wahren versuchten.

Nach Gründung der Bizone am 1. Januar 1947 in Westdeutschland trieb die SMAD die Zentralisierung in ihrer Zone energisch voran. Am 10. Februar wurde eine "Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen den Landes- und Provinzialverwaltungen und den Deutschen Zentralverwaltungen für Industrie, Brennstoff und Energie sowie Handel und Versorgung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands" unterzeichnet. Die entscheidenden Positionen innerhalb der Landesregierungen waren längst in der Hand der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), gleichwohl erschwerte die Existenz der Länder die einheitliche sozialistische Umgestaltung. Vor allem in den den Ländern Thüringen und Sachsen verfügten bürgerliche Kräfte nach wie vor über Einfluß und leisteten Widerstand gegen die Einführung der Planwirtschaft und die schleichende Entmachtung der Länder.

Am 4. Juni 1947 faßte die SMAD die verschiedenen Wirtschaftsbehörden in ihrer Zone zur Deutschen Wirtschaftskomission (DWK) zusammen und beauftragte sie, einen verbindlichen Plan für das Jahr 1948 auszuarbeiten. Die SED beschloß auf ihrem II. Parteitag im September 1947 offiziell den Übergang zur zentralen Wirtschaftsplanung. Die Landtage sanken danach praktisch zu Verwaltungsinstanzen herab, die sich fast nur noch mit der Umsetzung der Wirtschaftsbeschlüsse befaßten.

Die Absichten der SED und der sowjetischen Behörden reichten über den Bereich der Wirtschaft weit hinaus. Die eingeschlagene Politik sollte, wie es in der parteioffiziellen "Geschichte der SED" heißt, "an der Seite der Völker der Sowjetunion und der volksdemokratischen Staaten ohne imperialistische Einmischung die revolutionäre Umwälzung in allen gesellschaftlichen Bereichen" befördern.

Neue Bezirke lösten die Länder praktisch auf

Ende Februar 1952 beschloß das Zentralkommitee (ZK) der SED konkrete Maßnahmen zur territorialen Umgestaltung der DDR. In den nächsten Wochen erarbeitete die Parteibürokratie die Pläne dazu, die auch einen Neuzuschnitt der Kreise beinhalteten. Am 23. Juli 1952 wurde das "Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik", kurz: "Demokratisierungsgesetz", vom DDR-Parlament in üblicher Einmütigkeit verabschiedet. Auch die Länderkammer stimmte zu. An die Stelle der fünf Länder traten 14 Bezirke, die Zahl der Kreise erhöhte sich von 132 auf 217. Nach dem Mauerbau erhielt auch Berlin (Ost) den Rang eines Bezirks.

Zusammenballung der Staatsmacht im Politbüro

Die Länderkammer blieb vorerst noch bestehen, ihre Mitglieder wurden durch die Bezirkstage bestimmt. Diese Reminiszenz an den Föderalismus erfolgte mit Rücksicht auf die Wiedervereinigungsrhetorik gegenüber der föderal verfaßten Bundesrepublik. Als die Wiedervereinigung Ende der fünfziger Jahre gänzlich unrealistisch wurde, erschien auch die Länderkammer verzichtbar. Am 8. Dezember 1958 wurde sie durch ein Gesetz aufgelöst.

Der Verwaltungsaufbau der DDR entsprach jetzt auch offiziell dem Modell des "demokratischen Zentralismus". Zu seinen Prinzipien zählten die Wählbarkeit aller Organe von unten nach oben und die Verbindlichkeit der Beschlüsse von oben nach unten, sowie die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit. Dieses an sich bereits zweifelhafte Modell erwies sich in der Praxis noch problematischer, weil es in der DDR keine freien Wahlen gab. Das Ergebnis war die unkontrollierte Zusammenballung der Staatsmacht im SED-Politbüro. Genau das war beabsichtigt. Die Bezirke waren bloße Verwaltungseinheiten, die nach ökonomischen Gesichtspunkten, als Untereinheiten einer zentral gesteuerten Wirtschaft, gebildet wurden. So wurde beispielsweise das Lausitzer Braunkohlegebiet, das zu den Ländern Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt gehört hatte, im Bezirk Cottbus zusammengefaßt. Die so entstandene Monokultur machte es den Bezirken unmöglich, eine eigene, regionale Wirtschafts- und Strukturpolitik zu betreiben. Sie waren unselbständig und politisch zu schwach, um ein Gegengewicht zur Zentralgewalt zu bilden.

Es ging weiterhin um die Vergrößerung, Stärkung und Säuberung des Partei- und Staatsapparats. Die Parteiorgane und staatlichen Institutionen unterhalb der Zentralbehörden wurden neu strukturiert und ausgebaut. Gleichzeitig wurde den Menschen ein traditionelles, regionales Bezugssystem genommen, wohl in der Annahme, sie würden dadurch in ein engeres Verhältnis zum DDR-Staat treten.

Die Erwartungen der SED an die Gebietsreform wurden letztlich enttäuscht. Der "demokratische Zentralismus" brachte einen bürokratischen Wasserkopf hervor. 1989 leistete die DDR sich 44 Ministerien, davon 31 für spezielle Industrie- und Wirtschaftszweige zuständige, reine Fachministerien. Hinzu kamen eine Unzahl an Kommissionen, Räten, Staatssekretariaten, Komitees und Zentralverwaltungen. Diese staatliche Struktur fand überdies eine spiegelbildliche Entsprechung in der Parteibürokratie, bei der die eigentliche Macht lag. Dieser Wirrwarr erstickte jede Eigeninitiative und trug zum Scheitern der DDR bei.

Neugründung der Länder erfolgte spontan

Als Ende der siebziger Jahre die versprochenen Erfolge des Sozialismus sichtbar ausblieben, ein DDR-eigener Patriotismus sich nicht herausbilden wollte und der Ausreisedruck stieg, versuchte die SED-Führung, den Regionalismus vorsichtig wiederzubeleben. Die Angebote reichten von folkloristischen Fernsehsendungen über Hobbyzirkel, Mundartenpflege und Regionalforschung bis hin zu landschaftstypischen Kochbüchern. Allerdings war dieser Kurswechsel zu durchsichtig, zu halbherzig und unpolitisch, um das Regime befestigen zu können. 1989/90 wurde die Wiedererrichtung der Länder von den Menschen spontan, ohne Vorgaben aus dem Westen, auf die Tagesordnung gesetzt. In den Jahren des Umbruchs boten sie ihnen emotionalen Halt und ein übersichtliches politisches Bezugsfeld.

Heute muß die Frage gestellt werden, ob diese Funktionen noch relevant sind und die Existenz der durchweg zu klein geratenen neuen Länder rechtfertigen. Auf absehbare Zeit bleiben sie Kostgänger und Statisten des Bundes. Als der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff (SPD), im Mai 2001 gegen den Willen seines Koalitionspartners PDS im Bundesrat der Rentenreform zustimmte, begründete er sein Verhalten damit, daß die vom Land in Anspruch genommene Solidarität des Bundes keine Einbahnstraße sein könne. Noch dramatischer vollzog sich die Nötigung des brandenburgischen Regierungschefs Manfred Stolpe (SPD) bei der Abstimmung um das Zuwanderungsgesetz. Nur Sachsen und Thüringen sind, dank zweier starker Ministerpräsidenten, im Konzert der Bundesländer gelegentlich mit eigener Stimme zu hören. Derart von der Zentralgewalt gedemütigte Länder bieten den Menschen langfristig keinen attraktiven Bezugspunkt mehr. Es spricht viel dafür einen energischen territorialen Neuzuschnitt zu wagen, der die Kleinstaaterei zugunsten stärkerer Einheiten aufhebt. Sonst wird der Föderalismus in Deutschland zur Eulenspiegelei.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen